Wissenschaftsjahr 2007 - Bild



Bild

Die einen Bilder kann man ansehen: Höhlenmalereien zum Beispiel, die Mona Lisa, Röntgenaufnahmen, Videoclips oder Emoticons. Andere Bilder wiederum – Metaphern oder Phantasien – existieren nur vor unserem geistigen Auge. Und wiederum anderen Bildern wie etwa Ikonen sagt man nach, sie wirkten selbst im verhüllten Zustand; sie dienen vornehmlich religiöser Verehrung.

Bilder können wir zumeist spontan erfassen und verstehen. Wir können uns an sie besser erinnern als an abstrakte Begriffe. Sie können unsere Sinne betören und lösen zuweilen starke Gefühle in uns aus. Warum ist das so?

"Der Liebhaber", schrieb Leonardo da Vinci (1452-1519) einmal in sein Notizbuch, "küsst das Bildnis der Geliebten und spricht mit ihm – was er nicht machen würde, wenn ihm deren Schönheit von einem Schreiber präsentiert worden wäre." Denn, so Leonardo: Malerei zeige die Dinge, wie sie seien – während die Dichtung nur Worte wiedergebe. Stimmt das? Sind uns Bilder deshalb so unmittelbar verständlich, weil wir sie so sehen, wie das Dargestellte selbst?
Auf einem Gemälde des spanischen Renaissancekünstlers El Greco, das gegen Ende des 16. Jahrhunderts entstand, sieht man den Heiligen Hieronymus. El Greco porträtierte den Gelehrten, wie üblich, in roter Kardinalsrobe und mit einem dicken Buch vor sich. Auffallend sind die asketischen Züge, die hagere Gestalt und die merkwürdig schmale Kopfform. Auch der Oberkörper und selbst die Finger des Kirchenvaters sind von übernatürlicher Länge.

Unter Kunsthistorikern streitet man sich darum, wie El Grecos merkwürdige Art der Darstellung zu erklären ist, die nicht dem Geschmack der damaligen Zeit entsprach und sogar den Unmut einiger Auftraggeber erregte. Eine Hypothese besagt, El Greco habe unter einem Astigmatismus, einer Sehstörung gelitten – und die Dinge ebenso in die Länge gezogen gemalt, wie er sie gesehen hat. Gegen diese Erklärung spricht jedoch, dass nicht alle Darstellungen El Grecos gleichermaßen verzerrt sind. Zudem weiß man von anderen Künstlern, dass sie diese Sehschwäche hatten, ohne dass sich dies in ihren Bildern bemerkbar gemacht hätte.

Einige Kunsthistoriker haben deshalb eine andere Theorie entwickelt. El Greco, sagen sie, habe die Welt einfach auf eine bestimmte Art gesehen, so wie Picasso oder van Gogh ihre eigene Art gehabt hätten, die Dinge zu betrachten – so wie unser aller Wahrnehmung immer schon "piktorialisiert", also durch einen bestimmten Bild-Stil geprägt ist. Denn Bilder, so die Theorie jener Kunsttheoretiker, zeigen die Welt nicht, wie sie ist, sondern lehrten erst, sie auf die eine oder die andere Weise zu sehen. So habe erst die Erfindung der perspektivischen Darstellung durch die Künstler der Renaissance den Menschen beigebracht, die Welt auf diese Weise zu betrachten, die uns seitdem als die "realistische" gilt. Aber in Wahrheit sei die perspektivische Form der Betrachtung, ebenso wie die fotografische, nicht wirklichkeitsgetreuer als jene nach der Art El Grecos – man könne die Dinge eben so oder so sehen.

So weit muss man nicht gehen. Man braucht den Gedanken nicht völlig aufzugeben, dass bildliche Darstellungen dem Abgebildeten sehr ähnlich sein können, um einräumen zu können, dass Bilder unser Sehen verändern können. Karikaturen zum Beispiel leiten uns, ähnlich wie El Grecos Gemälde, dazu an, bestimmte Aspekte erst wahrzunehmen – etwa Züge an einem Menschen zu sehen, die an ein bestimmtes Tier oder an eine Obstsorte erinnern. Indem wir Karikaturen, anatomische oder technische Zeichnungen gleichsam in die Wirklichkeit hineinsehen, verändern sie unsere Sicht der Dinge. Insofern gibt es für Bilder keine Alternative: Im Umgang mit ihnen reift eine ganz eigene, Kunst und Wissenschaft vereinende Form von Erkenntnis – ein Bilder-Wissen, das sich nur schwer in Worte fassen lässt.

Erst in jüngster Zeit wurde erkannt, wie zentral Bilder für sehr viele Geisteswissenschaften sind, nicht nur für die Kunstgeschichte. Das deutlichste Zeugnis für diese Einsicht ist die sich gegenwärtig formierende, interdisziplinäre "Bildwissenschaft", die Ansätze fort- und zusammenführt, die in den einzelnen Disziplinen wie Kunst-, Film- oder Medientheorie, aber auch in der Psychologie(innere Bilder), der Kognitionswissenschaft oder der Physik entwickelt worden sind. Hier ist noch vieles im Fluss: Vorschläge gibt es, die Bildbetrachtung wie die Sprachbetrachtung in Syntax, Semantik und Pragmatik aufzugliedern. Anderen schwebt eine enge Anbindung an die Informatik vor, weil die so genannten "bildgebenden Verfahren" technischer Natur heute die größte Rolle spielten. Wieder andere Bildwissenschaftler halten am Primat der Kunstgeschichte fest. Die Bedeutung des Bildes an sich aber ist unstrittig. So liegt eines der ältesten Phänomene der Kultur einer der jüngsten Geisteswissenschaften zugrunde – und diese wird ihrerseits unser Bild vom Bild entscheidend verändern. 


Springen Sie direkt: zur Hauptnavigation zum Seitenanfang