Wissenschaftsjahr 2007 - Heimat



Heimat

Einer der wenigen deutschen Begriffe, für die es in anderen Sprachen keine Entsprechung gibt, lautet "Heimat". Sein Ursprung leitet sich aus dem Indogermanischen ab und bezeichnet einen "Ort, wo man sich niederlässt", ein "Lager", das "wohnlich" ist und einen Zustand des Friedens verspricht.

Wie kommt es, dass sich dieses Wort ausgerechnet im deutschen Sprachraum herausbildete und nirgendwo sonst? Weil, so eine Erklärung, es lange Zeit kein Deutschland, kein einig Vater- oder Mutterland gab, auf das man sich beziehen hätte können.

Noch Mitte des 19. Jahrhunderts war Heimat in den deutschen Kleinstaaten eine juristische Wendung, die den "armenrechtlichen Verweisungsort" benannte, um die Absicherung sozial Schwacher zu regeln. Die sich durch die Reichsgründung 1871 beschleunigende Industrialisierung läutete das Ende des Heimatrechtes ein und machte die Heimat zu dem, was sie heute noch ist: Zu einer räumlich begrenzten und auf eine konkrete Gemeinschaft bezogenen Verklärung der Realität; zu einem Traum von einer besseren, von einer kleinen Welt.

Den rasant wachsenden Städten und Betrieben, der zunehmenden persönlichen und beruflichen Entfremdung wurde eine romantische und beständige dörfliche Idylle gegenüber gestellt. Naturlyrik, Bauernromane, Trachtengruppen, Heimatmuseen, Heimatkundeunterricht, Heimatkunst waren kulturelle Kompensation dieser schmerzhaften Verlusterfahrung.

Erst im Moment ihres Verschwindens wurde die Heimat bewusst wahrgenommen und als Utopie, als Symbol für das Vergangene oder nie Dagewesene beschrieben. Das Gefühl, eine "verspätete Nation" zu sein, gleichziehen zu müssen mit anderen Staaten und diese nach der Niederlage des Ersten Krieges im Zweiten übertreffen zu wollen, führte zu einer ideologischen Aufladung des Heimatbegriffes.

Auch in Filmen, so in "Schwarzwaldmädel" (1950) und "Grün ist die Heide" (1951), versorgte die westdeutsche Unterhaltungsindustrie die geteilte Nation mit Heimat: eine erfolgreiche Ware. Sie kam in Form eines Klischees daher, als Berg- und Heidewelten, die von Bomben verschont geblieben waren. In den 70ern trat Heimat als neue Innerlichkeit in Erscheinung, in den 80ern als mehrstündige Fernsehchronik, in den 90ern als Reminiszenzschriften der Generation Golf und der Zonenkinder.

Heimat ist ein komplexer Gegenstand, dessen Erforschung einen umfassenden interdisziplinären Ansatz voraussetzt: Geistes- und Naturwissenschaften werden einbezogen, Psychologie, Soziologie, Theologie, Geschichte, Germanistik, Geographie, Jura, Kunstgeschichte, Ethnologie, Anthropologie und Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften in Anspruch genommen. Und dabei gibt es in den Geisteswissenschaften gar keine Disziplin "Heimatforschung". Allenfalls die methodisch lange zur Avantgarde zählende Regionalgeschichte, die Anfang des Jahrhunderts als Verbund aus Lokalgeschichte, Volkskunde und Sprachgeschichte entstanden ist, kann hier genannt werden: Institute für geschichtliche Landeskunde entstanden an mehreren deutschen Universitäten. Die aufkommende Heimatbewegung der zwanziger und dreißiger Jahre trieb indes schlimme Blüten, wurde zur völkisch aufgeladenen Legitimationsstrategie für weitreichende Gebietsforderungen.

Was ist aus dem Landidyll geworden? Im Zuge der Globalisierung verschwinden die alten Gegensätze zwischen Stadt und Land. In Zeiten, in denen Emailadressen und Homepages die Konstanten der mobil gewordenen Gesellschaft darstellen, schafft das Internet für die vielfach entwurzelte digitale Boheme eine völlig neue Art der Identifikation und Beheimatung.

Mit Heimat kann im 21. Jahrhundert nicht mehr nur eine Gegend oder eine Nation, sondern auch Europa, die Erde, ja, sogar die virtuelle Welt gemeint sein. Das verstärkt die Sehnsucht nach etwas Überschaubarem, Unverwechselbarem, Ursprünglichem. Für den Philosophen Ernst Bloch war Heimat nicht Verlorengegangenes, sondern ein in die Zukunft weisendes Ideal: "Die Wurzel der Geschichte [...] ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat." Das ist das Prinzip Hoffnung, das auch die Wissenschaft dazu bewegt, immer wieder in unbekannte Welten des Geistes vorzustoßen und einen Ort des Friedens zu finden.  


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