Wissenschaftsjahr 2007 - Kreativität



Kreativität

Der alte Begriff der Kreativität – die theologische Dimension, der Verweis auf die Schöpfung Gottes, liegt auf der Hand – wurde von Wirtschaft und Politik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als universales Schlagwort neu entdeckt: Jede Initiative muss plötzlich kreativ sein. Schon zuvor ist Kreativität indes Gegenstand der interdisziplinären Forschung geworden.. Für die Anthropologie ist bereits jede Hervorbringung von Kulturgütern ein kreativer Akt. Die sogenannte Reformpädagogik hingegen hält "Sättigung, Gewissheit, die Folgen des Reichtums und der guten pädagogischen Absicht", wie Hartmut von Hentig schreibt, für die wirkungsvollsten Verhinderer von Kreativität. Ein Mensch, der kreativ sein soll, benötigt also ein Problem ohne Lösung, das ihm zu schaffen macht. Er muss zudem erwarten können, dass es eine Lösung gibt und er braucht den lenkenden Widerstand der Wirklichkeit gegen die Beliebigkeit der Einfälle.

Verwandt ist die Kreativität der Kunst, insofern diese „poiesis“ ist, Hervorbringung, und nicht nur – nach dem alten Kunstmodell – reine "mimesis", also Nachahmung. Es ist das Genie, das ganze Welten erschafft, ein "alter deus" schon für Leibniz ist: ein zweiter Gott. Bei Shaftesbury erhält dieser Prometheus-Gedanke eine Zuspitzung: Die Natur selbst ist kreativ und leitet besonders befähigte Individuen zur Kreativität an. Vom "gottgleichen Genius" spricht schließlich Goethe. Der Geniekult klang bald ab, die Kreativität aber hatte noch eine lange geisteswissenschaftliche Karriere vor sich.

Mit der "schöpferischen Begabung" als Konstrukt beschäftigte sich erstmals der Wissenschaftler Sir Francis Galton, es war um das Jahr 1890. Seine Arbeit markiert den Anfang der Intelligenz- und Kreativitätsforschung. Ihren entscheidenden Aufbruch erlebte diese Forschung durch den "Creativity"-Vortrag von Joy Paul Guilford 1950 in den USA. Guilford entwickelte darin das Modell des "divergenten Denkens", eine Form des Denkens, das offene Probleme ohne festen Lösungsweg behandelt. Der These zugrunde legte Guilford die Tatsache, dass Intelligenztests so gut wie nichts zutage fördern, was wir "kreativ" nennen würden.

Sehr eng gefasst wiederum ist der historische Kreativitätsbegriff. Er bezeichnet nur denjenigen als kreativ, der in der Tradition seiner Kulturgemeinde als erster etwas Bestimmtes erschafft. Der metaphysisch-philosophische Kreativitätsbegriff wiederum bezieht sich ausschließlich auf die metaphysische Neuheit. Sie entsteht aus dem Nichts ("ex nihilo"). Diese Position führt zum sogenannten Paradoxon der Kreativität: Metaphysische Neuheiten sind naturalistisch nicht erklärbar. Sobald sie jedoch erklärbar sind, können sie nicht neu sein.

Das vermeintlich Neue ist gemäß dieser Überlegung nur eine Rekombination von Bekanntem, das – so die Bedenken – eben nicht wirklich neu ist. Dass man demnach nichts aus dem Nichts und damit nichts absolut Neues schaffen kann, stützt diejenigen Kreativitätsforscher, die über das kreative Potential von Computern nachdenken. Dass maschinelle Kreativität überhaupt möglich ist, zeigt für Befürworter dieser These zum Beispiel das Programm AARON von Harald Cohen: Es entwirft Bilder, die von Menschenhand geschaffen sein könnten. Dem Menschen nähert sich die Kreativitätstheorie, indem sie individuell erlebte Kreativität analysiert. Als prominentes Beispiel gilt der Bericht des deutschen Chemikers Friedrich August Kekulés, in dem er schildert, wie er die Ringstruktur des Benzolmoleküls entdeckt hat. Es heißt, das, was er wissen konnte, habe nicht ausgereicht, um die Struktur des Moleküls zu erkennen. Kekulé schildert später, wie er in seinem Lehnstuhl vor dem Feuer eingeschlummert ist. Im Traum seien Atome vor seinen Augen gewirbelt; er habe größere Strukturen in schlangenartiger Bewegung erkannt. Als eine der Schlangen ihren eigenen Schwanz erfasste, sei er wie vom Blitz getroffen aufgewacht – und habe erkannt, wie das Benzolmolekül strukturiert ist. Das Bild, das Kekulé vor sich sah, mag zwar von einem Zoobesuch oder ähnlichem inspiriert worden sein, kam also nicht aus dem "Nichts" – weil es aber keinen direkten Bezug zum Benzolmolekül hatte, stellt seine Anwendung eine kreative Leistung dar. 

Ein umfassendes Modell der Kreativität existiert jedoch bis heute nicht. Vielleicht ergeben sich im Zusammenspiel mit der Hirnforschung neue Ansätze, die helfen können, die Kreativität deutlicher zu charakterisieren. Viele Beschreibungen von Kreativität schließen eine naturalistische Erklärung nicht aus. Doch sogar dann, wenn das Gehirn deterministisch funktionieren sollte, werden die Neurowissenschaften seine Komplexität wohl nie vollständig verstehen können.


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