Wissenschaftsjahr 2007 - Neugierde



Neugierde

In jedem Kind steckt ein kleiner Prometheus, also ein Stück jenes klassischen Helden, der den Menschen gegen den Willen der Götter das Feuer brachte. Manchmal ist der Wunsch, hinter die Geheimnisse der Natur zu kommen, so übermächtig, dass er alle Stufen des Erwachsenwerdens übersteht: Ein Forscher reift hier heran. Wie aber solche Neugierde zu beurteilen ist, das entscheidet jede Epoche für sich.

In den Augen des Kirchenvaters Augustinus ist der Neugierige jemand, der gegen alle gebotene Demut Gottes Geheimnis zu entschlüsseln versucht. Einmal haben sich die Menschen in Gestalt von Adam und Eva schon am Baum der Erkenntnis vergangen und sind seither gezeichnet. Ein Donnerwort ergeht daher gegen alle, die mit ihrem Vorwitz die Erbsünde zu wiederholen drohen: Nichts anderem frönten sie als der "Augenlust". Der Vorwurf war weniger harmlos, als es scheint. Den Begriff hatte nämlich Augustinus dem ersten Brief des Johannes entliehen, wo Augenlust mit den beiden Hauptlastern Wollust und Hochmut in Verbindung steht. Und doch unterscheidet auch Augustinus sehr klar: Die curiositas ist für ihn die um sich selbst kreisende und nichts ernst nehmende Gier nach ständig Neuem, nach dem "Kitzel der Sinne" – etwas ganz anderes als das Streben nach vernunftgemäßer Erkenntnis, das er ausdrücklich gutheißt und gar im Schöpfungsakt selbst begründet sieht.

Diese Ablehnung der "curiositas", also der Neugier um ihrer selbst willen, prägte die gesamte christlich-abendländische Kultur. Noch in der Renaissance konnte die Neugierde als Anmaßung gegenüber dem Schöpfer gelten. In dem ikonographischen Handbuch "Iconologia" von 1593, verfaßt von Cesare Ripa, begegnet uns die Neugier als abstoßende Personifikation: Sie trägt ein Gewand voller Ohren und Froschaugen, ganz der Äußerlichkeit der Welt ergeben. In dieser Zeit aber begann das Verhältnis von Seele und Welt sich bereits zu verkehren. Ganz eindeutig fixieren lässt sich der Umbruch nicht, doch in der frühen Neuzeit erfährt der Forscherdrang eine regelrechte Verherrlichung. So stellte der englische Philosoph Thomas Hobbes heraus, neben der Vernunft sei es die Neugierde, die den Menschen vom Tier unterscheide. Den interessierten Blick hält jetzt nichts mehr auf, die Wissenschaft nimmt sowohl das All als auch den menschlichen Körper in Augenschein. Grenzen werden überschritten, ferne Welten erkundet. Gezielt nimmt man zahllose Experimente in Angriff mit dem Zweck des Erkenntnisgewinns. Vom "Prozess der theoretischen Neugierde" spricht der deutsche Philosoph Hans Blumenberg in diesem Zusammenhang.

Im 17. Jahrhundert greift die Neugierde auf die bildende Kunst über. Die manieristische "perspective curieuse" entsteht. Sie ist eine Parodie der Zentralperspektive der Frührenaissance: Das Ferne rückt nah, alles wirkt dezentralisiert. Auch sonst ist es das Zeitalter der Verzerrungen, der Kuriositätenkabinette. Mehr und mehr erhält die Neugierde eine ästhetisch-rhetorische Dimension.

Hier und da kehrt auch die Ablehnung wieder, die oft an die letztgenannte Dimension anschließt. Die Jansenisten etwa reaktivieren die augustinische Gnadenlehre: Es tue dem Menschen nicht gut, mehr zu wissen, als von Gott vorgesehen sei. Auch Jean-Jacques Rousseau beschwört die glückliche Unwissenheit. Durch die Neugierde, die Wissenschaft und Kunst hervorgebracht habe, sei der Mensch korrumpiert worden. Das war direkt und provokant gegen die große Fortschrittserzählung gerichtet.

Ein ausdrückliches Verbot der Neugierde aber findet sich nicht mehr. Hin und wieder schien der wissenschaftliche Fürwitz in den letzten beiden Jahrhunderten sogar zu einem gewissen Überschwang zu führen. Nach und nach aber wurde klar, dass Forschung immer auch Folgen hat, die in ihrer ganzen Tragweite abgeschätzt werden müssen: Ein eigener, interdisziplinärer Wissenschaftsbereich entwickelte sich. Neugierde ist also kein Königsweg, aber sie kann ein wichtiger Anstoß sein für kleine wie für große Wissenschaftler.


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