Wissenschaftsjahr 2007 - Orient



Orient

Auf das Morgenland richten sich viele Sehnsüchte, selbst und gerade in der "entgötterten Welt" nach der Durchrationalisierung der westlichen Kultur im 18. Jahrhundert. Im Jahre 1812 übersetzte der Orientalist Joseph von Hammer-Purgstall den "Diwan" des Hafis ins Deutsche. Dieses Buch gelangte 1814 in Goethes Hände: mit großen poetischen Folgen. Am 23. Januar 1815 erklärte der Dichter in einem Brief, was ihn "jetzo beynahe ausschließlich beschäftigt": "Ich habe mich nämlich, mit aller Gewalt und allem Vermögen, nach dem Orient geworfen, dem Lande des Glaubens, der Offenbarungen, der Weissagungen und Verheißungen." So sehr war Goethe vom Orient eingenommen, dass er ihm sein wirkmächtiges Spätwerk widmete, den "West-östlichen Diwan". Was aber ist das eigentlich: der Orient?

Ursprünglich, in der lateinischen Variante "oriens", das Partizip zu "oriri": "sich erheben", war der Orient  ein reiner Beziehungsbegriff, der schlicht das Aufgehen der Sonne andeutete. Ganz so schlicht war das jedoch keineswegs, denn die Ausrichtung nach Osten hatte nicht nur – wie im Kirchenbau – eine religiöse Funktion, sondern auch eine kartographische: Der Orient erlaubte Orientierung. Das deutsche Lehnwort "Orient" begegnet uns erstmals im 12. Jahrhundert.

Auf den fernen Osten richtete sich die Aufmerksamkeit im christlich geprägten europäischen Hochmittelalter vor allem aus einem Grund: Das Heilige Land schien in Gefahr. Dem Islam begegnete man dabei jedoch meist pragmatisch. Vom 14. Jahrhundert an nahm in Europa verständlicherweise das Interesse an den Osmanen zu, die immer näher heranrückten, dies jedoch nicht nur militärisch, sondern auch in kultureller Hinsicht. Die Humanisten brachten im 16. Jahrhundert "Türkendramen" auf die Bühne. Der Barock wiederum nahm gerne Elemente der chinesischen und japanischen Kultur auf. Doch erst in der Aufklärung und in der Romantik erhielt der "Orient" seine lange kennzeichnenden Konturen: ein nahe am Exotismus errichteter Vorstellungskomplex, der besonders den Stil in den Vordergrund rückte. In die europäischen Künste gingen nun türkische und arabische Motive und Ornamente ein, orientalisierende Gemälde standen hoch im Kurs. Der Romantik galt die orientalische Dichtung als gleichwertig mit der antiken Literatur. Der Orient war ein Traumort.

In diesem Umfeld entstand die Orientalistik, in Deutschland zunächst betrieben von philologisch und theologisch interessierten Pionieren wie Johann Jakob Reiske und Johann Gottfried Eichhorn, bevor sich das Fach im 19. Jahrhundert zum geisteswissenschaftlichen Großunternehmen entwickelte, dem insbesondere die Sprachwissenschaften angehörten. Man war zu Beginn besonders an Nachweisen für die erstmals im Jahr 1786 geäußerte These interessiert, die europäischen Sprachen und das altindische Sanskrit hätten gemeinsame Wurzeln.

Im zwanzigsten Jahrhundert schien aus dem Traum ein Trauma zu werden. Harsche Kritik ereilte die westliche Orientalistik im Postkolonialismus: Der Literaturkritiker Edward Said warf ihr vor, das romantisierende Bild einer mystischen Welt nie aufgegeben zu haben. Eine große Debatte schloss sich an Saids polemische Studie "Orientalismus" von 1978 an. Die Grundthese hat sich dabei behaupten können: "Orient" ist weniger ein Ort denn ein Diskurs, der seit dem 18. Jahrhundert vor allem im Westen Verbreitung fand. Ob er aber, wie Said meinte, einzig der "Disziplinierung" des Ostens durch den Westen diente, ist zumindest umstritten, scheint doch gerade damit – ein erneuter Eurozentrismus – den arabischen, indischen und anderen "orientalischen" Wissenschaftlern ihre Bedeutung abgesprochen zu werden.

Die Orientalismus-Debatte selbst aber war äußerst bedeutsam. Inzwischen sind die Orientwissenschaften längst internationalisiert – wie ihr Gegenstand. Von einem "Kampf der Kulturen" kann man schließlich kaum sprechen, wenn man sieht, in welch engem Austauschverhältnis abend- und morgenländische Geistesgeschichte immer standen: Nachdem die griechische Philosophie früh in die arabische Welt diffundiert war, gelangte die arabisch-persische Wissenschaft (samt Aristoteles) bereits im Mittelalter zurück nach Südeuropa, wofür beispielhaft Denker wie Avicenna in Persien oder Averroes in Spanien stehen. Ganz so eng blieben die Kontakte nicht, rissen aber nicht mehr ab. Auch für die Wissenschaften darf daher in gewisser Weise gelten, was in der Astronomie zu revolutionären Einsichten geführt hat: Der Morgenstern ist der Abendstern.


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