Wissenschaftsjahr 2007 - Querdenken



Querdenken

Etwas Schillerndes macht den Begriff des Querdenkens aus. Negativ wird er oft gewertet, weil Querdenken etwas von Störung des normalen Betriebes, sogar etwas von Sabotage hat. Die Bezeichnungen "Quertreiber" und "Querschläger" liegen nicht fern. Positiv wird der Begriff bewertet, weil Neues im Denken oft nur entstehen kann, indem man sich von den Routinen befreit und im Zweifel quer zu den herrschenden Grundüberzeugungen zu denken beginnt. Dann kann der Begriff sogar etwas Heroisches annehmen. Querdenker können leicht nerven. Querdenken ist aber oft nötig, um einen Gegenstand aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Insofern liegen Ablehnung und Bewunderung im Zusammenhang mit Querdenkern nahe beieinander.

In gewisser Weise lassen sich die Geisteswissenschaften als institutionalisiertes Querdenken begreifen – als Instanzen des Nachdenkens, in denen die verschiedenen Wertinstanzen und Sinnrefugien der Gesellschaft in Beziehung zueinander gesetzt werden können. Als Leistung der Verknüpfung unterschiedlicher Wissensbereiche spielt das Querdenken in den Geisteswissenschaften eine große Rolle. Bis es dazu kommen konnte, musste sich erst einmal ein autonomer Bereich der Wissenschaften etablieren, auch dabei war Querdenken zentral – erst einmal als Fähigkeit, von den Normen der jeweiligen Zeit abstrahieren zu können. Besonders augenfällig ist das bei wissenschaftlichen Revolutionen, die einen vollkommen neuen Blick auf die Welt nach sich zogen.

Hätte der Astronom Nikolaus Kopernikus nicht quer zu den Lehren seiner Zeit gedacht, hätte er die berühmte kopernikanische Wende unseres Weltbildes nicht einleiten können, die die Sonne an die Stelle der Erde und somit ins Zentrum unseres Planetensystems rückte. Hätte Sigmund Freud das Seelenleben des Menschen nicht anders durchleuchtet, als es die bürgerlichen Konventionen vorschrieben, möglicherweise würde man immer noch glauben, das Ich sei Herr im eigenen Haus. Und hätte Charles Darwin nicht quer zur biblischen Schöpfungsgeschichte geforscht, hätte er kaum seine Theorie von der Evolution der Arten entwickeln können.

Querdenker wie Kopernikus, Freud und Darwin werden heute als Begründer unseres modernen Weltbildes gesehen. Da sie quer zu den Dogmen ihrer jeweiligen Zeit standen, hatten sie allerdings mit Ablehnung und Anfeindungen zu kämpfen. Davon kommt aber auch die Aura und die Würde, die das Querdenken nicht selten genießt. Man hat inzwischen gelernt, dass es, um zur Wahrheit zu gelangen, Querdenker geben muss, die dem Augenschein und dem alltäglichen Denken misstrauen.

In unserer flexibilisierten Welt kann man sich immer weniger auf starre Denkschablonen verlassen. Deshalb wird Querdenken heute viel positiver bewertet als in Gesellschaftsordnungen, die feste Grundüberzeugungen ausbildeten – wobei inzwischen die Leistung, unterschiedliche Bereiche miteinander zu verknüpfen, in den Vordergrund getreten ist. Querdenken gilt als Synonym für Kreativität, innovative Methoden und die Fähigkeit, über den Tellerrand seiner wissenschaftlichen Disziplin hinauszuschauen. Dass es auch in der Wirtschaft der Produktivität nur gut tut, wenn die Arbeitsteams Platz für Querdenker bieten, kann man zudem in vielen Managementratgebern nachlesen. Auch im gesellschaftlichen Alltag wird die Kompetenz des Querdenkens gefordert: In ihrem ganz normalen Lebensverlauf müssen moderne Individuen auseinander strebende Bereiche wie zweckrationale Effizienz im Wirtschaftssystem und emotionale Anforderungen in der Familie miteinander verbinden.

In den Geisteswissenschaften können diese Prozesse nicht nur reflektiert und nachvollzogen werden. Neue Methoden und Arbeitshypothesen ziehen in ihnen stets auch neue Formen des Querdenkens nach sich – etwa wenn in der Literatursoziologie der Bereich der Künste mit ökonomischen Mitteln beschrieben wird oder in der Linguistik psychologische Ansätze des Spracherwerbs mit neuen Ergebnissen der Hirnforschung kombiniert werden. 


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