Wissenschaftsjahr 2007 - Religion



Religion

Wie halten wir es mit der Religion? Die Gretchenfrage lässt heute nur eine Antwort zu: liberal. Die Religionsfreiheit – Freiheit zu und von der Religion – ist eines der elementaren Menschenrechte. Historisch erstritten wurde es vor allem gegen das Christentum, besser: innerhalb des Christentums, das seinen eigenen Kampf um Anerkennung vergessen zu haben schien. Dass die beiden Phänomene Glaube und Toleranz einmal fest aufeinander bezogen sein würden – in den Worten des Preußenkönigs Friedrich II.: dass jeder nach seiner Fasson selig werden möge – war lange nicht absehbar. In der Religion ist dies freilich auf gewisse Weise schon angelegt.

Es war im Europa des 18. Jahrhunderts, dass sich ein bestimmtes und bestimmendes Verständnis von Religion durchgesetzt hat, für das es etwa im Sanskrit, im Chinesischen, im Hebräischen und im Arabischen keine Entsprechung gibt. Das Kennzeichen dieser Perspektive ist der Blick von der Vernunft und Wissenschaft aus auf ihr vermeintliches Gegenstück: So konnte der Eindruck entstehen, es gebe nur eine "natürliche Religion", die in der immer noch vernunftkompatiblen Erkenntnis des einen Gottes bestehe. Die verschiedenen Glaubensrichtungen, meinten die Aufklärer, stellten lediglich sektenhafte Ableger dar. Abgelehnt wurden die Opfer, Bitten und Lobpreisungen, die "frömmelnde Gläubigkeit" und die "nichtigen Bräuche".

Dass die vielen Religionen lediglich verschiedene Wege darstellen, auf denen Gläubige zu einem gemeinsamen Gott unterwegs sind – so denkt man auch heute noch gern. Allerdings hat man zumindest in der wissenschaftlichen Betrachtung eingesehen, dass sich diese verallgemeinernde Sicht auf die Religion schwer aufrecht erhalten lässt. Zum einen nämlich gibt es durchaus Religionen ohne Gott, wie den Buddhismus. Zum anderen hat man immer deutlicher erkennen müssen, dass die Religion keineswegs etwas ist, was die Menschen über die Grenzen der Kulturen hinweg vereint.

Im Gegenteil: Die Religion ist untrennbar verbunden mit den Lebensgewohnheiten einer Gemeinschaft, mit der gesamten Kultur. Es gibt sie nicht in Reinform. Ein schönes Beispiel für diese Vermischung der Sphären ist die "protestantische Ethik", die, so zumindest die Behauptung des Soziologen Max Weber, die Basis kapitalistischen Wirtschaftens darstellt. Aus Gründen dieser Vermischung sind Fragen des Glaubens so konfliktreich: Es geht in ihnen eben nicht nur um den Glauben, sondern zugleich um alles andere.

Als Fehlprognose hat sich auch erwiesen, dass die Religion sich mit fortschreitender Modernisierung ihrer vermeintlich unvernünftigen Elemente zunehmend entledigen oder sogar zum Erliegen kommen würde. Das Interesse an Religion ist in den USA, aber auch in Japan und China ungebrochen und auch in Europa neuerdings wieder erwacht. Weltweit sind die Religionsgemeinschaften sogar auf Expansionskurs – das Christentum in Lateinamerika, Afrika und einigen asiatischen Gesellschaften. Immer größer wird zugleich die Vielfalt der Glaubensrichtungen. So wurden um das Jahr 1900 weltweit 1.800 allein christliche Konfessionskirchen gezählt. Am Ende des 20. Jahrhunderts waren es, bedingt vor allem durch die vielen neuen protestantischen Kirchen, bereits 33.000. Auch innerhalb der etablierten Konfessionen, das erkennen wir heute, herrscht alles andere als Gleichförmigkeit. Unter kirchentreuen Schweizer Katholiken etwa nimmt seit dreißig Jahren der Anteil derer, die sich – unvereinbar eigentlich mit der katholischen Lehre – zur Reinkarnation bekennen, also zur Wiedergeburt des Menschen, kontinuierlich zu. 

Mit dem Aufkommen des abstrakten Konzepts Religion bildete sich die (Vergleichende) Religionswissenschaft aus, die es zum Universitätsfach erst im 20. Jahrhundert schaffte. Inzwischen hat sie, abgerückt von der theologischen Fakultät, den echten Pluralismus der Religionen akzeptiert. Gleichwohl ist sie darum bemüht, weiterhin den Unterschied ihres Gegenstands, der Religion, von dem traditionsreichen Vorläuferbegriff des Glaubens (fides) abzugrenzen. Dessen Relevanz ist schließlich religionsintern: Die Theologie definiert sich bis heute als wissenschaftliche Analyse der Quellen und der Praxis des Glaubens.

Konflikte zwischen den Religionen werden immer mehr zu solchen innerhalb von Glaubensgemeinschaften, die vielfältige Strömungen unter einem Dach vereinen. Und auch die Idee, dass Religion Privatsache sei, versteht sich immer weniger von selbst. Das haben der Streit um das Kruzifix im bayerischen Klassenzimmer gezeigt, um das Kopftuch einer muslimischen Lehrerin in Baden-Württemberg, die Ladenöffnungsregelungen an Feiertagen und um die Mohammed-Karikaturen in einer dänischen Zeitung. Wo endet die Religionsfreiheit? Juristen haben eine scheinbar eindeutige Antwort: Da, wo andere Rechte beeinträchtigt werden. Doch so klar ist das oft nicht zu entscheiden. Theologen, Religionswissenschaftler, Religionssoziologen, Politologen – und nicht nur sie – bemühen sich gegenwärtig, die Untiefen dieser Frage auszuloten.


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