Wissenschaftsjahr 2007 - Sprache



Sprache

"Das Kind lernt nicht, daß es Bücher gibt, daß es Sessel gibt, etc. etc., sondern es lernt Bücher (zu) holen, sich auf Sessel (zu) setzen", schreibt der österreichische Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein. Wörter werden also seiner Ansicht nach in einem Lebenszusammenhang gelernt und verwendet; isoliert von diesem Zusammenhang können sie nicht betrachtet werden. Mit der Beschreibung dieses Phänomens eröffnete Wittgenstein die Bühne für eine neuartige Diskussion: die mehrdimensionale Sprachbetrachtung.

Bis dahin galt primär, dass es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen einem Zeichen (Wort) und seiner Bedeutung gibt. Diese Lehrmeinung ist heute noch Grundlage der strukturalistischen Sprachauffassung und stammt von den griechischen Philosophen Platon und Aristoteles. Im Dialog "Kratylos", der als ältestes, vollständig erhaltenes Zeugnis europäischer Sprachphilosophie gilt, setzt Platon diese unmittelbare Beziehung voraus und lässt fragen, ob jegliches Ding "seine von Natur ihm zukommende richtige Benennung" hat oder ob "kein Name irgendeines Dinges" ihm "von Natur" gehört, "sondern durch Anordnung und Gewohnheit derer, welche die Wörter zur Gewohnheit machen und gebrauchen" entsteht. Eine Frage, an der sich im Mittelalter die Gelehrten im so genannten Universalienstreit schieden – und bis heute gilt diese Frage als strittig.

Wilhelm von Humboldt, der Begründer des Neuhumanismus, sah Sprache nicht als statisches Produkt sondern als Tätigkeit, die den Gedanken zuallererst hervorbringt. In jeder Sprache sei auf diese Weise eine eigentümliche Weltsicht begründet.

Den Gebrauch von Wörtern, Sätzen und Texten ins Zentrum der Sprachbetrachtungen zu rücken, die pragmatische Dimension also, ermöglichte Erklärungen für die Konstitution von Gemeinschaften, für Sprachevolution und für Spracherwerb. Sich eine Sprache vorzustellen, sagt Wittgenstein, heißt, sich eine Lebensform vorzustellen, denn Sprachen werden von den Gruppenmitgliedern verstanden, die die Bedeutung entschlüsseln können. Gleichzeitig beeinflussen die Mitglieder der Gemeinschaft ihre Sprache. Diese verändert sich ständig, passt sich den Bedingungen der Umwelt und den Bedürfnissen der Menschen an. So fallen überflüssig gewordene Wörter weg oder werden durch tauglicher erscheinende Wörter ersetzt.

Das Verschwinden von Sprachen war immer Teil des Sprachwandels, wenngleich dieses Sterben durch Kolonialisierung und Globalisierung oft massiv vorangetrieben wird. Derzeit wird die Zahl der natürlichen Sprachen auf zwischen 1.200 und 10.000 geschätzt, je nachdem welche Kriterien der Unterscheidung man anwendet. Etwa die Hälfte dieser Sprachen wird in den nächsten 20 bis 50 Jahren aussterben – allerdings ist nicht absehbar, welche anderen Sprachen sich in dieser Zeit herausbilden werden.

Wie kommt es, dass kleine Kinder keinen mühsamen Grammatikunterricht erhalten – und dennoch innerhalb kurzer Zeit Deutsch, Russisch oder Filipino lernen? Die Anhänger der Wittgensteinschen Schule nähern sich diesem Phänomen, indem sie Spracherwerb als Teil der Sozialisation begreifen: Das Kind wächst in eine Lebensform hinein und will in dieser verstehen und verstanden werden. Der amerikanische Linguist Noam Chomsky beschäftigt sich hingegen mit dem Erwerb von Sprache aus biologischer Sicht: Wie wird, fragt er, Sprache im Gehirn verarbeitet? Hinter einer Lernleistung, so Chomsky, müsse eine Art angeborener Prozessor stecken, ein Sprachorgan, das wie eine Computersoftware Regeln anwendet und dadurch korrekte Sätze bildet. Ein Kind wisse beispielsweise durch seine Geburt, dass es eine Subjektposition gebe; aus den gehörten Worten von Vater oder Mutter filtere es die nötigen Informationen heraus. Die Optionen werden richtig gewählt, als würde man einen Schalter umlegen.

Chomskys Linguistik, die "Generative Grammatik", hat weite Teile der Linguistik nachhaltig beeinflusst. Linguisten, die streng nach Chomsky arbeiten, erforschen jedoch nicht das tatsächliche Sprechen oder die tatsächliche Kommunikation sondern die Kompetenz, das Sprachwissen und damit einen abstrakten Gegenstand. Vielleicht zeigt die Zukunft Wege, die Ergebnisse der tatsächlichen und der abstrakten Sprachbetrachtungen zusammenzuführen, was zu neuen umfassenden Erkenntnissen führen würde.


Springen Sie direkt: zur Hauptnavigation zum Seitenanfang