Wissenschaftsjahr 2007 - 07.03. - 13.03.2007

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07.03. - 13.03.2007

Drei Themen dominierten in der letzten Woche die Diskussion. Zum einen staunten die Feuilletons über die Entscheidung der Bayerischen Staatsbibliothek, ihre Bestände von Google Books digitalisieren zu lassen - die Kommentare fielen teils skeptisch, teils enthusiastisch aus. Kontrovers diskutiert wurde zum anderen der mit Rekordquoten ausgestrahlte Fernseh-Historien-Zweiteiler "Die Flucht". Zahlreiche Nachrufe gab es außerdem zum Tode des Philosophen und Theoretikers Jean Baudrillard. Es handelte sich fast durchweg um Bestandsaufnahmen zur Frage, wie gültig seine Theorie des "Simulakrum" heute noch ist.

Schwerpunkt

Bayerische Staatsbibliothek lässt Bestände von Google Books digitalisieren

Für einiges Aufsehen sorgte die Entscheidung der Bayerischen Staatsbibliothek zur Kooperation mit Google Books. In der SZ hält Johann Schloemann die Befürchtungen von Jean-Noël Jeanneney, dem Leiter der Französischen Nationalbibliothek, für obsolet: "Denn wo wäre die 'gefährliche kulturelle Homogenisierung' durch die Amerikanisierung, die der Franzose warnend beschwört, wenn wir fortan aus München altgermanistische Studien des 19. Jahrhunderts, asiatische Spezialitäten und praktisch die gesamte urheberrechtsfreie deutsche Literatur, wenn wir aus Madrid alte Cervantes-Ausgaben herunterladen können?"

Skeptischer zeigt sich Peter Michalzik in der FR: "Neben die Aufweichung des Urheberrechts tritt dann die Entwertung der Inhalte: Irgendeinen brauchbaren Inhalt finde ich im Netz immer, warum soll ich dann den nehmen, den ich aufwändig und kostenintensiv von einem Verlag erwerben muss?"

In der FAS streicht Jürgen Kaube den Nutzen für die Forschung heraus: "Auch das Suchen nach Büchern und die Weise, auf die jene für Geisteswissenschaftler so wichtigen Zufallsfunde sich ergeben, dürften sich dadurch verändern. Die größere Geschwindigkeit des Suchprozesses und das schnellere Prüfenkönnen, ob das, was man hinter einem Titel vermutet hat, auch zutrifft, kommen insbesondere Gelehrten entgegen."

In der Welt wägt Wieland Freund Für und Wider des Deals ab.

  • SZ, 8.3.2007
  • FAS, 11.3.2007

Vertreibung in der Diskussion: Historiker streiten über TV-Zweiteiler "Die Flucht"

Nach der Ausstrahlung mit Rekordquoten ging die Diskussion unter Historikern über den Fernseh-Zweiteiler "Die Flucht" erst richtig los. Die Fachleute waren dabei sehr unterschiedlicher Ansicht über die Seriosität des Unternehmens. Hans-Ulrich Wehler hielt, wie er im Interview mit dem Deutschlandfunk erklärt, den ersten Teil für "Edelkitsch" - "aber der zweite Teil, in dem der Treck ganz im Vordergrund stand, das fand ich als Versuch, einen so ungeheuerlichen Vorgang wie die Flucht und Vertreibung von zwölf Millionen Menschen ins Bild zu setzen, aufs Ganze gesehen, akzeptabel."

Peter Steinbach, der wissenschaftliche Leiter der Gedenkstätte deutscher Widerstand und Berater der Filmproduktion, zeigt sich im Gespräch mit dem Tagesspiegel insgesamt zufrieden, fragt sich allerdings, "ob die Einbindung einer Liebesgeschichte historisch angemessen ist. "Im Deutschlandradio kann der Politikwissenschaftler Peter Reichel kaum positive Aspekte erkennen: " Dieser Film, das ist mein Hauptvorwurf, lässt eine Familiensaga sich verselbständigen gegen die politische Geschichte des Zweiten Weltkrieges, die unverstanden und letztlich auch unbekannt bleibt."

Tod des Philosophen Jean Baudrillard

Alle Feuilletons schrieben zum Tod des Theoretikers des "Simulakrum", des Soziologen, Philosophen, Fotografen – und gelernten Germanisten – Jean Baudrillard. Die Nachrufe erwähnen, dass seine Thesen zum Verschwinden der Wirklichkeit zuletzt nicht mehr sehr en vogue waren – vielfach wird aber darauf hingewiesen, dass dies häufig mit sehr verkürzten Lektüren zu tun hat.

In der taz fanden sich insgesamt gleich vier Artikel zum Anlass. Ines Kappert zeichnet ein Bild des Denkers Baudrillard und stellt fest: "Das Provozierende an seinen Theorien ist nicht zuletzt die Geste der Affirmation." Niels Werber verteidigt Baudrillard gegen Vorwürfe, er habe die Realität geleugnet, der Leiter des Karlsruher ZKM Peter Weibel erinnert sich an einen Freund. In der Wochenendausgabe kommt dann ein letztes Mal Baudrillard selbst zu Wort, mit einem transkribierten Auszug aus einer kurz vor seinem Tod entstandenen Audio-CD – die wiederum Joseph Hanimann in der FAZ als "an Einfällen überbordend" lobt.

In der SZ zeichnet Thomas Steinfeld ein sehr kritisches Bild von Baudrillards Entwicklung: "Aus dem Leben in Zeichenwelten war schon eine zunehmend esoterische, sektiererische Vorstellung geworden."

Joseph Hanimann charakterisiert den Denker in der FAZ so: "Der Ausdeutung von Alltagsobjekten, Kunstwerken, Gesellschaftsphänomenen, Kollektivritualen, Einzelverhalten galt, mehr philosophisch spekulierend als soziologisch ausmessend, über zwei Dutzend Bücher hinweg seine Hauptaufmerksamkeit, mit einem unüberhörbaren Nachklang von Alfred Jarrys 'Pataphysik', für die Baudrillard sich einst interessiert hatte."

In der FR schreibt Harry Nutt, in der Zeit Thomas Assheuer, in der Welt Wieland Freund - in der NZZ Jürgen Ritte, von dem auch der Nachruf im Deutschlandfunk stammt.

  • SZ, 8.3.2007
  • FAZ, 8.3.2007 (Nachruf)
  • FAZ, 10.3.2007 (Rezension Audio-CD)

Themen der Woche

Gemeinsames Geschichts-Schulbuch für Europa

Von Diskussionen um ein gemeinsames Geschichtsbuch für europäische Schulen berichtet Christian Domnitz auf den Seiten "Wissen und Forschen" des Tagesspiegel. Auf einer informellen Ratstagung zum Thema wurden sehr unterschiedliche Positionen deutlich.

Mellon-Preis für Judaisten Peter Schäfer

Im Gespräch mit dem Tagesspiegel erläutert der soeben mit dem Mellon Award (Dotierung: 1,5 Millionen Dollar) ausgezeichnete, heute in Princeton und zuvor an der FU Berlin lehrende Judaist Peter Schäfer über seine Forschung – und über den Standortvorteil eines die einzelnen Forschungsgebiete zusammenfassenden "Department of Religion" in Princeton: "Das genau hätte ich mir für Berlin gewünscht! Wir haben da ganz verschiedene Gebiete: American Religion, Islam, Far East, Judentum, Christentum. Auch mit meinem Schwerpunkt Spätantike bin ich eingebunden in einer Unterabteilung 'Religion in der Spätantike'. Da treffe ich mich regelmäßig mit Kollegen, die Christentum, griechisch-römische Religion oder Judentum behandeln. Diesen Zwang zum interdisziplinären Ansatz habe ich auch für mich selbst, in der Lehre und bei Vorträgen, als sehr gut empfunden."

100. Geburstag: Erinnerung an Religionswissenschaftler Mircea Eliade

In der NZZ erinnert der in Erfurt lehrende Religionswissenschaftler Hans G. Kippenberg an den zu Lebzeiten gelegentlich als "Schamane" geschmähten Autor und Religionsgeschichtler Mircea Eliade, der in diesem Jahrs einen 100. Geburtstag gefeiert hätte und streicht heraus: "Es ist eine faszinierende Leistung Mircea Eliades, religiöse Konzeptionen und Praktiken der Religionsgeschichte so zu Gehör gebracht zu haben, dass das Zeitalter dröhnender Weltbürgerkriege nicht alles andere übertönt."

NZZ, 9.3.2007

Robert Spaemann: Was ist eine gute Religion?

In der Serie der NZZ antwortet der Philosoph Robert Spaemann mit einer längeren Erörterung auf die Frage "Was ist eine gute Religion?" - und kommt zu dem Schluss: "Eine gute Religion - vielleicht ist das jene, von der wir wünschen, dass sie wahr wäre."

Tagungen, Vorträge

Mobilität in Europa

Für die FR berichtet Harry Nutt von einer interdisziplinären Tagung in Berlin, auf der Kulturwissenschaftler und Historiker wie Wolfgang Kaschuba und Karl Schlögel über die Geschichte der europäischen Mobilität nachdachten. "Die Verkehrsentwicklung in Europa, prognostizierte Kaschuba, wird zunehmend bestimmt werden von kulturellem Befremden, ökologischen Problemen und terroristischen Gefahren. Ob nicht gar der Tourismus eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln sei, lautete die Frage eines Teilnehmers. Eine direkte Antwort bekam er im Hause des Gastgebers TUI allerdings nicht."

Gegen den "Clash of Civilizations"

In der FAZ informiert Uwe Walter über einen Vortrag, in dem der Althistoriker Glen Bowersack mit Verweis auf die Antike Samuel Huntingtons Thesen zum "Clash of Civilizations" vehement widersprach: "Der Redner entwarf das faszinierende Porträt einer globalisierten Alten Welt zwischen dem Juden Jesus und islamischen Gelehrten, deren Übersetzungen die Überlieferung von Werken eines unter dem römischen Kaiser wirkenden griechischen Arztes sicherten."

FAZ, 13.3.2007

Carl Schmitt: Ein katholischer Denker?

Etwas seltsam fand es Alexandra Kemmerer in der FAZ, dass die Katholische Akademie in München eine Reihe über katholische Denker ausgerechnet mit einem Vortrag von Nicolaus Lobkowicz über den Juristen Carl Schmitt eröffnete. Der Zusammenhang erwies sich nämlich schnell als sehr problematisch: "Am Ende seines Vortrags hatte Lobkowicz Schmitt nicht nur vom Konservativismus abgekoppelt, sondern auch vom Katholizismus."

FAZ, 7.3.2007

Besprochene Bücher

Als großen, wenngleich an seinem Anspruch zuletzt doch scheiternden Wurf bezeichnet Josef Früchtl in seiner FAZ-Rezension das ambitionierte Werk "Das Jahrhundert" des französischen Philosophen Alain Badiou: " In dem Versuch, ein ganzes Jahrhundert auf den Begriff zu bringen, ist Badiou als Philosoph derzeit singulär. Nur der Historiker Eric Hobsbawm und der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama haben dies in unserer Zeit auch gewagt. Nichts steht Badiou freilich ferner, als mit Fukuyama das 'Ende der Geschichte' auszurufen; mit Hobsbawm vom 'Zeitalter der Extreme' zu sprechen kommt ihm dagegen sehr nahe."

FAZ, 9.3.2007

Mehrfach besprochen wurde die vom Historiker und Theologen Gerhard Brakelmann verfasste Biografie zum 100. Geburtstag des als Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus ermordeten Helmuth James Graf von Moltke. In der FR resümiert Renate Wiggershaus: "Günter Brakelmanns bewegende Biografie zeichnet das Bild eines lebenszugewandten, allem Geistigen und Schönen aufgeschlossenen Menschen, der im nationalsozialistischen Terrorsystem die Erfüllung der 'unabweisbaren Aufgabe aller Rechtschaffenen, die Verbrechen klein zu halten', mit dem Leben bezahlte."

In der Zeit merkt Volker Ullrich kritisch an: "Der Autor, der als Theologe und Historiker an der Ruhr-Universität in Bochum lehrte, hat sich in zwei Bänden mit biografischen Skizzen und Texten zum Kreisauer Kreis als emsiger Kompilator, aber nicht gerade als begabter Schreiber ausgewiesen. Und darin liegt im Grunde auch das Problem seiner Moltke-Biografie. Sie ist solide gearbeitet, schöpft fleißig aus den Quellen, doch fehlt ihr jeder schriftstellerische Ehrgeiz."

In der Welt hält Felix Müller die "minutiöse Nähe zu den Quellen" für die große Stärke des Buches.

Zeit, 8.3.2007

Welt, 10.3.2007


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