Singen im Chor – Grassroot und Avantgarde aus Tradition!

Ein Expertenbeitrag von Christian Wulff, Präsident des Deutschen Chorverbands Das Singen in Gemeinschaft, im Chor prägt unser Zusammenleben bis heute nachhaltig und ist fester Bestandteil der kulturellen DNA unseres Landes. Wie sehr dies auch über die rein private Freizeitgestaltung hinausgeht, zeigt sich bereits in den Anfängen der Laienchorbewegung in Deutschland, die ihre Ursprünge in den Vorläufern der bürgerlichen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts hat. Erstmals schlossen sich außerhalb der Kirchenmusik bürgerliche Gruppen zu Singgemeinschaften und sogenannten Liedertafeln zusammen – heute würde man vielleicht von bürgerlichen Grassroot-Bewegungen sprechen.

Als übergeordneter Verband entstand 1862 der Deutsche Sängerbund, der sich, von seinen ursprünglich bürgerlich-freiheitlichen Ansätzen kommend, zur Zeit des Nationalsozialismus in die Propaganda einbinden ließ. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er wiederaufgebaut und zählte 1990 zu den ersten Verbänden, dem die Wiedervereinigung mit den Sängerinnen und Sängern in Ostdeutschland organisatorisch und inhaltlich gelang.

Christian Wulff war von 2010 bis 2012 Präsident der Bundesrepublik Deutschland. Zuvor hatte er von 2003 bis 2010 das Amt des niedersächsischen Ministerpräsidenten inne. Heute engagiert er sich unter anderem als Vorsitzender der Deutschlandstiftung Integration sowie seit Februar 2018 als Präsident des Deutschen Chorverbands.

Auch die Verbindung von Chorgesang und Arbeit ist bewährte Tradition. Denn einen weiteren Teil seiner Wurzeln hat der heutige Deutsche Chorverband in der sozialistischen Arbeitersängerbewegung, die als Avantgarde der emanzipatorischen Bewegungen bereits früh auch Frauen aufnahm. Unter dem Nationalsozialismus wurde der 1908 gegründete Deutsche Arbeiter-Sängerbund zwangsaufgelöst und erst nach Kriegsende als Deutscher Allgemeiner Sängerbund neubegründet. Im Jahr 2005 schlossen sich die beiden großen Verbände der bürgerlichen und der Arbeitersängerbewegung schließlich zum Deutschen Chorverband zusammen.

Viele der wesentlichen Stärken, die die Chorbewegung dabei von Anfang an auszeichneten, sind heute noch – und vielleicht sogar mehr denn je – in der Gesellschaft und in der Arbeitswelt gefragt. Gerade angesichts von Globalisierung, Digitalisierung und Anonymisierung leisten Chöre ihren Beitrag zur Förderung von Gemeinschaft, Kreativität und persönlichem Engagement. Vielen Menschen bieten sie eine Heimat.

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Sie führen Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft zusammen und überwinden Grenzen und Vorurteile. Die über eine Million singenden und fördernden Mitglieder in den mehr als 15.000 Chören, die aktuell unter dem Dach des Deutschen Chorverbands und seinen 21 Mitgliedsverbänden organisiert sind, leben Woche für Woche in jeder Chorprobe in allen Teilen des Landes beispielhaft vor, wie sich Menschen unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft und beruflichen Stellung auf Augenhöhe begegnen und für ein gemeinsames Ziel engagieren.

Dass mittlerweile sogar im unmittelbaren Arbeitsumfeld, in Betrieben und Büros, vermehrt wieder Chöre ins Leben gerufen werden und dort der Abteilungsleiter neben der Auszubildenden oder die Geschäftsführerin neben dem Pförtner Seite an Seite zusammen singen, knüpft nicht nur an eine lange Tradition an – hier zeigt sich der Chorgesang nach wie vor als moderner und richtungsweisender Trend. Er leistet damit einen großen Beitrag zum Zusammenhalt unserer Gesellschaft.


Die hier veröffentlichten Inhalte und Meinungen der Autorinnen und Autoren entsprechen nicht notwendigerweise der Meinung des Wissenschaftsjahres 2018 – Arbeitswelten der Zukunft.