Digitalisierung und KI für die erfolgreiche Energiewende
Um eine nachhaltige Energieversorgung und damit die Pariser Klimaziele zu erreichen, muss sich das Energiesystem grundlegend ändern. Das bedeutet: Die Energiewirtschaft muss sich langfristig von einer zentral organisierten Versorgung mit planbaren fossilen und nuklearen Energieträgern verabschieden. Bisher mussten beispielsweise bei der Stromversorgung die Netzbetreiber quasi nur eine Zahl – die Netzfrequenz – im Auge behalten, die als Qualitätsindikator für den stabilen Netzzustand dient. Abweichungen von den vorgegebenen 50 Hertz wurden durch Anpassung der Fahrpläne in den steuerbaren Kraftwerken ausgeglichen.
Marcus Voß studierte Wirtschaftsinformatik an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist seitdem Doktorand an der Schnittstelle aus Energiesystem und Informatik am Distributed Artificial Intelligence Laboratory (DAI-Labor) der Technischen Universität Berlin. Dort leitet er die Arbeitsgruppe „Smart Energy Systems“ und arbeitet in diversen Forschungsprojekten inhaltlich und koordinativ. Dabei steht die Frage nach Unterstützung der Energiewende durch Digitalisierung und KI im Fokus. In seiner Doktorarbeit beforscht er die Analyse von Smart-Meter-Daten mit Anwendungen für Prognosen und Clustering.
Bei der nachhaltigen Energieversorgung müssen nun stetig wachsende Kapazitäten schwankender Stromerzeugung auf allen Ebenen integriert werden – vom großen Offshore-Windpark in der Ostsee bis zur Solaranlage auf dem Einfamilienhaus. Die Verfügbarkeit hängt stark vom Wetter ab. Eine Steuerung der Erzeugung bedeutet, dass wertvolle erneuerbare Energien abgeregelt werden. Es muss aber weiterhin in jedem Zeitschritt die Stromerzeugung mit dem Verbrauch nahezu übereinstimmen.
Um das zu gewährleisten, gibt es keinen Königsweg. Es braucht viele verschiedene Lösungsansätze – vom Netzausbau bis hin zur Speicherung. Die Digitalisierung ist dabei ein notwendiger Wegbereiter. Sie schafft schnellere und flexiblere Markt- und Systemprozesse, kann das Stromnetz an andere Sektoren wie die Wärmeversorgung, die Industrie und die Mobilität anbinden und den Endverbraucher als „Prosumenten“ – also gleichzeitig als Konsument und als Produzent der Energie – integrieren. So kann bei Bedarf der Verbrauch an die Erzeugung angepasst werden – ein tiefgreifender Wandel und eine enorme Steigerung der Komplexität. Können Methoden aus dem Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI) dieser Vielschichtigkeit etwas entgegenstellen?
Ansatzpunkte für die KI im Energiesystem
Methoden aus dem Bereich der KI sollen im Energiesystem dabei unterstützen, bessere Entscheidungen zu treffen. Erste Erfolge können sie bei der Verbesserung der Prognosen von Verbrauch und Erzeugung verzeichnen. Diese Vorhersagen werden im komplexer werdenden Energiesystem auf allen Ebenen benötigt. So können die Energieeffizienz erhöht und Erzeugung und Verbrauch optimal aufeinander abgestimmt werden – auch dann, wenn die Sonne einmal nicht scheint oder viele Elektrofahrzeuge auf einmal in einem Netzabschnitt laden wollen.
Auch weitere Anwendungen befinden sich in der Erprobung, wie beispielsweise die vorrauschauende Instandhaltung („Predictive Maintenance“). Dabei lernen Algorithmen den Normalbetrieb zum Beispiel von Windrädern oder Trafo-Stationen und können bei Abweichungen schon vor dem potentiellen Schadensfall den Betreiber alarmieren. Damit werden Kosten gesenkt. In der Systemplanung können Clustering-Algorithmen typische Verbrauchertypen erkennen, erwartetes Verhalten und Unsicherheiten für einen speziellen Standort akkurat modellieren und so Standardlastprofile und Gleichzeitigkeitsfaktoren ersetzen.
Hindernisse beim Einsatz von KI im Energiesystem
Für das Energiesystem ist die Entwicklung robuster und transparenter Algorithmen notwendig. Aktuelle KI-Methoden sind häufig noch „Black Boxes“, das heißt Menschen können die Entscheidungen der KI nicht immer nachvollziehen. Dies zu ermöglichen ist ein spannender, aktueller Forschungsbereich und elementar für die Anwendung im Energiesystem.
Ein zweites Hindernis ist die Datenverfügbarkeit. Im Energiesystem werden Daten streng reguliert. In einigen Bereichen – zum Beispiel den Verteilnetzen – wurden bisher nahezu keine Daten benötigt und daher auch nicht erhoben. Dies erschwert es neuen und innovativen Marktteilnehmern, der Forschung, aber auch Abteilungen innerhalb der klassischen Energieunternehmen neuartige Ansätze zu entwickeln und zu erproben. Hier müssen ein Umdenken der klassischen Akteure erreicht und neue Strategien zum Umgang mit Daten geschaffen werden.
Die größte Herausforderung ist die Interdisziplinarität. Um die Chancen der KI im Energiesystem wirklich nutzen zu können, müssen Akteure mit verschiedensten Hintergründen zusammenarbeiten. Dies erfordert zum einen die interdisziplinäre Aus- und Weiterbildung und zum anderen das Aufbrechen von Silodenken, um die richtigen Akteure zusammenzubringen. So werden künstliche Probleme nicht nur unter vereinfachten Annahmen oder lediglich für die Außenkommunikation gelöst, sondern auch die eigentlichen Probleme der Energiewende angegangen.
Mehr als nur Maschinelles Lernen
KI-basierte Methoden können sich an spezifische lokale Umstände automatisch anpassen. Sie können ohne vorherige Annahmen Unsicherheiten besser darstellen als beispielsweise Ansätze aus der statistischen Zeitreihenanalyse. In komplexen Situationen können sie schnell näherungsweise Lösungen finden, wenn traditionelle Methoden, wie zum Beispiel Netzsimulationen, aufgrund der Komplexität an ihre Grenzen geraten.
Aktuell scheint KI in der öffentlichen Wahrnehmung fast ausschließlich mit einem Teilgebiet gleichgesetzt zu werden: dem Maschinellen Lernen. Allerdings bietet der Methodenkasten der KI auch weitere für das Energiesystem interessante Ansätze. So ist die zunehmende Dezentralität des Energiesystems ideal, um ein weiteres Teilgebiet der KI anzuwenden: die Multi-Agentensysteme. Dabei werden die Komponenten im System durch autonome, intelligente Dienste abgebildet. Diese finden durch Kooperation und selbstständiges Aushandeln, zum Beispiel von Preisen, optimale Strategien, ohne dass eine zentrale Kontrolle notwendig ist. Auch die Robotik kann Anwendung finden: Zum Beispiel, wenn Drohnen Oberleitungen selbstständig nach Schäden absuchen oder Elektrofahrzeuge automatisiert an die Ladepunkte angeschlossen werden, um dem Netz als Stromspeicher zu dienen.
Die hier veröffentlichten Inhalte und Meinungen der Autorinnen und Autoren entsprechen nicht notwendigerweise der Meinung des Wissenschaftsjahres 2019 – Künstliche Intelligenz.