Der Mikroarchitektur des menschlichen Gehirns mit KI auf der Spur

Ein Expertenbeitrag von Dr.-Ing. Timo Dickscheid vom Forschungszentrum Jülich

Um die Funktionsweise des menschlichen Gehirns zu entschlüsseln, müssen wir seine Struktur verstehen. KI-Algorithmen sind dafür unverzichtbar und ermöglichen die Berechnung und Analyse ultrahochaufgelöster 3D-Modelle des Gehirns aus riesigen Mengen von Mikroskopbildern. So helfen sie, den Aufbau des menschlichen Gehirns auf Ebene von Zellen und Nervenfasern zu erfassen. Die entstehenden Gehirnmodelle nutzen umgekehrt der KI-Forschung: Erkenntnisse zur Mikroarchitektur des Gehirns liefern wichtige Einblicke zur Entwicklung leistungsfähigerer KI-Algorithmen.

Das Gehirn ist das komplexeste Organ des Menschen und enthält circa 86 Milliarden Nervenzellen unterschiedlicher Art, die über Nervenfasern auf komplexe Weise zu einem riesigen Netzwerk verknüpft sind. Wir unterscheiden heute Hunderte von Hirnarealen, die sich in ihrem spezifischen Aufbau und in ihrer Funktionsweise unterscheiden - sie sind für Sehen, Hören, Entscheidungsfindung, Bewegungssteuerung, das Gedächtnis oder unsere Gefühlswelt verantwortlich.

Um die Gehirnstruktur verstehen zu können, müssen auf verschiedenen Ebenen Muster erkannt, analysiert und in einen Zusammenhang gebracht werden. Wir nutzen dazu in Jülich Hochdurchsatzmikroskope, die aus hauchdünnen Gewebeschnitten täglich digitale Bilder im Umfang von mehreren Terabytes (etwa 1.000.000.000.000 Bytes) erstellen - für ein Gehirn sind das über 7.000 Gewebeschnitte, aus denen im Laufe eines Jahres mehr als ein Petabyte (etwa 1.000.000.000.000.000 Bytes) an Daten entstehen. Das entspricht in etwa der Speicherkapazität von 1.000 typischen Heimcomputern.

Timo Dickscheid leitet die Arbeitsgruppe „Big Data Analytics“ am Institut für Neurowissenschaften und Medizin im Bereich "Strukturelle und funktionelle Organisation des Gehirns (INM-1)" des Forschungszentrums Jülich. Er studierte in Koblenz Informatik mit Schwerpunkt Computervisualistik. Für seine Dissertation an der Uni Bonn entwickelte er Verfahren zur automatischen 3D-Rekonstruktion von Gebäuden aus Bildern. In Jülich arbeitet er nun mit Methoden der Künstlichen Intelligenz an der Erstellung präziser 3D-Modelle des menschlichen Gehirns, und wirkt in dem deutschlandweiten KI-Netzwerk der Helmholtz Gemeinschaft – „Helmholtz AI“ – mit. Er ist im europäischen Großforschungsprojekt „Human Brain Project“ (HBP) verantwortlich für den Aufbau eines Online-Atlas des menschlichen Gehirns als Baustein einer nachhaltigen internationalen Forschungsdateninfrastruktur für die Neurowissenschaft, und gibt an der Heinrich Heine Universität Düsseldorf regelmäßig Vorlesungen im Fach Informatik und dem neuen Masterstudiengang „Artificial Intelligence & Data Science“.

Die KI-Algorithmen erhalten zum Lernen von Neurowissenschaftlern erstellte Bilder, in denen Nervenzellen und Grenzen von Gehirnarealen markiert wurden. Daraus leiten sie eigenständig ab, wie gleiche Aufgaben in neuen Bildern zu lösen sind. Das ist wichtig, denn die Vorgehensweise ist zu komplex um sie dem Computer Schritt für Schritt vorzugeben. Unsere KI-Algorithmen können heute mehrere Hirnareale eigenständig in wenigen Minuten pro Bild erkennen, obwohl ein Neurowissenschaftler Stunden benötigen würde.

KI-basierte Bildanalyse ist den Menschen schon heute eine Hilfe, wenn Smartphone oder Auto Gesichter, Verkehrszeichen oder Tiere erkennen. Allerdings birgt die Arbeit am Gehirn besondere Herausforderungen. Einige Beispiele:

  • Bei der Arbeit am Gehirn können Lernbeispiele nur von ausgebildeten Neurowissenschaftlern in mühsamer Arbeit erstellt werden, und liegen daher sehr begrenzt vor. Deshalb erforschen wir KI-Methoden, die mit wenigen Beispielen lernen und andere Informationen zur Problemlösung nutzen können.
  • Die tatsächliche Entscheidungsfindung des KI-Algorithmus ist schwierig zu entschlüsseln. Wir erforschen deshalb Wege, die von den Algorithmen erlernten Regeln besser zu interpretieren.
  • Eigenschaften unserer Bilder können sich systematisch ändern, wenn etwa die Vorgehensweise bei der Gewebepräparation im Labor optimiert oder die Optik der Mikroskope überarbeitet wird. Für die neuen Daten sind vorhandene Lernbeispiele dann möglicherweise nicht mehr aussagekräftig genug. Daher entwickeln wir KI-Modelle, die bereits gelerntes Wissen auf systematische Veränderungen anpassen können.

Die anfallenden Datenmengen sind so riesig, dass sie nicht vor Ort gespeichert und auf gewöhnlichen Computern analysiert werden können. Wir arbeiten deshalb mit dem Jülich Supercomputing Center (JSC) zusammen, wo wir Zugriff auf große Rechnersysteme und Unterstützung bei der Anpassung der KI-Programme für den hocheffizienten Betrieb erhalten.

Die Ergebnisse unserer Forschung werden als 3D-Gehirnatlanten über das Internet zugänglich gemacht. In dem europäischen Großforschungsprojekt “Human Brain Project” entwickeln wir dazu eine nachhaltige Forschungsdateninfrastruktur für die Neurowissenschaft. So wird das Wissen zur Mikroarchitektur des Gehirns in verschiedenen Forschungsbereichen nutzbar: In der klinischen Forschung, der Gehirnsimulation, und nicht zuletzt der Künstlichen Intelligenz.

 

Die hier veröffentlichten Inhalte und Meinungen der Autorinnen und Autoren entsprechen nicht notwendigerweise der Meinung des Wissenschaftsjahres 2019 – Künstliche Intelligenz.

Weitere Informationen

Das Institut für Neurowissenschaften und Medizin - Strukturelle und funktionelle Organisation des Gehirns (INM-1) am Forschungszentrum Jülich

Helmholtz AI – das KI Netzwerk der Helmholtz Gemeinschaft

Human Brain Project (HBP) – das europäische Großforschungsprojekt entwickelt eine Forschungsinfrastruktur für Neurowissenschaft, Medizin und Computing.

Das BigBrain im online atlas – ein 3D-Modell des menschlichen Gehirns mit einer Auflösung von 20 Mikrometern

Der neue Masterstudiengang Artificial Intelligence & Data Science an der Heinrich Heine Universität Düsseldorf

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