Wissenschaftsjahr 2014 - Die Digitale Gesellschaft

Der verwöhnte Kunde

Was der Einzelhandel vom Online-Handel lernen kann

Von Prof. Dr. Gerrit Heinemann (Hochschule Niederrhein)

Vor dem letzten Weihnachtsfest standen nicht wenige vor der Entscheidung, die Geschenke online bequem nach Hause liefern zu lassen oder doch lieber im Kiez einkaufen zu gehen. Mit dem digitalen Wandel sieht sich der klassische Einzelhandel verstärkt durch den Online-Handel bedroht - Kunden nutzen neue Technologien und stellen damit immer neue Anforderungen an die Anbieter. Für den Einzelhandel geht es um eine neue Kundenorientierung, allerdings für einen Kunden, den es so bisher nicht gab. Was kann der Einzelhandel vom Online-Geschäft lernen?

Das Bild zeigt einen Lagerraum, indem sich Versandkartons stapeln
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Meines Erachtens muss der Handel auf fünf neue Anforderungen des Kunden reagieren:

1. Maximaler Angebotsumfang

Immer mehr Kunden erwarten, dass sie alle Produkte im Netz finden und sich beinahe jedes weltweit verfügbare Produkt relativ schnell und einfach beschaffen können. Obwohl sicherlich noch verstärkt preisorientierte Geschäftsmodelle und Portale im Fokus stehen, entwickeln sich offensichtlich hochwertige, zum Teil beratungsintensive Gebrauchsgüter derzeit am erfolgreichsten. Unternehmen wie Fahrrad.de (Fahrräder), Reuter (Bad), Bett1 (Matratzen) oder auch Home24 (Möbel) decken diesen Sektor zwar bereits ab, haben aber häufig große Mühe, auf der Lieferantenseite an die hochwertigen Marken zu kommen und damit den Wünschen der Kunden zu entsprechen. In bestehenden Online-Kanälen bedeutet die Basisanforderung aber auch, hier das größtmögliche Sortiment anzubieten.

2. Direkte Einkaufsmöglichkeit

Sie werden auf Dauer keine verkrusteten Distributionsstrukturen akzeptieren, die Ihnen ihre Mündigkeit absprechen, direkt bzw. unkompliziert und serviceorientiert einkaufen zu können. Bestes Beispiel derzeit dürfte die SHK-Branche (Sanitär, Heizung, Klima) sein. Hier sind erfolgreiche Pioniere wie Reuter.de dabei, veraltete und verkrustete Vertriebskanäle aufzubrechen und dem Kunden direkte und serviceorientiertere Einkaufsmöglichkeiten anzubieten. Dadurch reduziert sich die Anzahl der Wertschöpfungsstufen. Diese sogenannte Disintermediation ermöglicht ein Absenken der Preise und führt so zu steigender Preisleistung. Kunden müssen nicht mehr für vermeintliche, aber nicht erbrachte und auch nicht gewünschte "Leistungen" zusätzlich bezahlen. Zum anderen erhöht sich der Kundenmehrwert durch Ausweitung der Angebote bzw. Auswahl, steigende Informationstransparenz sowie verbesserte Bearbeitungsqualität.

3. Digitale Zeitvorteile

Diesbezüglich geht es um Schnelligkeit, Zeitzuverlässigkeit und situationsgerechte Angebote. Same Day Delivery (SDD) wurde letztes Jahr bereits als Standard gesetzt und wird sich - vor allem von den Marktführern eBay und Amazon getrieben - weiter durchsetzen. Kunden kaufen häufig nur noch stationär ein, um die Ware noch am gleichen Tag zu Hause zu haben. Das bekommen sie jetzt auch durch SDD geboten. Wunschterminzustellung oder zuverlässige Zeitfensterbelieferungen für Kunden, die nicht "auf gut Glück" zu Hause auf die Anlieferung der Produkte warten wollen, werden von den Kunden in Zukunft ebenfalls erwartet. Hinzu kommt der Wunsch, Zeitersparnis beim Einkauf durch Empfehlungen oder "tailormade" Vorauswahlen wie z.B. beim Curated Shoppping realisieren zu können. Dieses betrifft auch situationsgerechte Angebote, die durch Lokalisierung des Kunden und seiner spezifischen Kaufsituation möglich und bereits in Location Bases Serviceangeboten erfolgreich umgesetzt werden.

4. Multi-Screening

Während die Internetnutzung zu Hause zwar stagnieren mag, explodiert der Gebrauch des mobilen Internets außer Haus - Tendenz stark steigend - wie auch die Rolle des mobilen Netzes zur generellen Kaufvorbereitung im Laden. Fast ein Viertel der Smartphone-Besitzer - und das sind in Deutschland rund 40 Prozent der Bevölkerung - haben ihr Gerät immer dabei, um Preise vergleichen und sich über Produkte informieren zu können. Immerhin 27 Prozent der mobilen Internetrecherchen enden heute schon im stationären Laden mit dem Kauf eines Produktes - so Google. Insofern haben Mobiles nicht nur für den Online-Shop eine herausragende Rolle als "Zubringer- und Servicefunktion", sondern ebenfalls für stationäre Formate. Dieses gilt auch für das Multi-Screening und die mobile Formatevielfalt: Die Internet-Nutzer lassen sich nicht mehr einem bestimmten Gerätetyp zuordnen, sondern nutzen unterschiedliche Formate in unterschiedlichen Situationen oder auch parallel. Diese Entwicklung weist darauf hin, dass zunehmend flexible Formatlösungen gefragt sein werden.

5. Mobile Nutzungsmöglichkeit

Kunden leben die digitale Realität und ihre damit einhergehende digitale Anspruchshaltung zu jeder Zeit, wo auch immer sie sich gerade aufhalten. Das gilt auch für das Einholen zusätzlicher Produktinformationen am Point of Sale (POS). Die emanzipierten Kunden möchten auf Basis der neuen Technologien und Tools die Möglichkeiten der modernen Kommunikation auch in den Läden nutzen können: Facebook-Liken, Bewerten, Bookmarken, Kommentieren sowie Diskutieren und Kaufempfehlungen aussprechen. Hinzu kommt das Hochladen eigener Inhalte, Status-updates sowie das Teilen oder Fragen. Die Nutzer wollen von dem erzählen, was sie gerade machen oder was sie interessiert. Alles und jeder wird bewertet, auch Händler und Produkte. Diese Entwicklung hat bereits ein neues Zeitalter des Social Commerce eingeleitet mit neuen Geschäftsmodellen wie beim amerikanischen Designportal Fab.com. Sie erfordert von stationären Händlern aber auch eine Aufrüstung bei der sogenannten "Digital-in-Store"-Ausstattung.

Traditionshäuser rüsten auf

Dass sich der Einzelhandel auf diese Veränderungen einstellen kann, zeigt der Traditionshändler Macy's, der mit einer derartigen Strategie der neuen Kundenorientierung nicht nur den Turnaround zu einem hochprofitablen Handelsunternehmen geschafft hat, sondern seit 2010 in allen Kanälen wieder stark wächst, und das im Kernmarkt von Amazon. Auch die englischen Traditionshäuser wie Debenhams oder Jon Lewis, aber leider (noch) kein deutscher Händler. Wieso tun sich so viele Hersteller und Händler in Deutschland so schwer mit der neuen Kundenorientierung? Die Antwort kann nur - neben dem Festklammern an teilweise überlebten Strukturen und der Servicewüste in diesem Land - in einem mangelnden Verständnis für den modernen Kunden, das Internet, der Internetnutzung und dem sich ändernden Nutzungsverhalten liegen. Sollte es dem Einzelhandel aber gelingen, Antworten auf die Veränderungen im Kaufverhalten der Kunden zu finden, kann der digitale Wandel eine große Chance bedeuten.

Zur Person

Prof. Dr. Gerrit Heinemann ist Professor für BWL, Management und Handel an der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach. Er ist Gründer und Leiter des dortigen eWeb Research Centers und Aufsichtsratsvorsitzender der buch.de internetstores AG in Münster.

 

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