Wissenschaftsjahr 2014 - Die Digitale Gesellschaft

Im Fegefeuer der Selbstverwirklichung

Das Individuum in der digitalen Leistungsgesellschaft

Erschöpfte junge Frau vor alten Computer
Digitale Elite: Zwischen Unabhängigkeit und Unsicherheit (© Photocase)

Ein Blogbeitrag von Prof. Dr. Dr. Ayad Al-Ani (Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft)

Immer größerer Innovationsdruck, globale Effizienzbesessenheit und der Rückgang der klassischen Festanstellung: Die Digitalisierung stellt unsere Arbeitswelt vor radikale Veränderungen. Immer mehr Menschen suchen Selbstverwirklichung fernab von Nine-to-Five-Jobs und starren Hierarchien: In offenen Netzwerken mit viel kreativer Freiheit - und hohem Unsicherheitsfaktor.

Von Intellektuellen und Politikern noch weitgehend unbemerkt, vollzieht sich gerade ein massiver Wandel in Gesellschaft und Ökonomie: Der seit den 1990er Jahren durch Globalisierung und digitale Technisierung erzeugte Hyperwettbewerb setzt die bestehende Arbeitsorganisation und das zugrunde liegende Verständnis von Arbeit und Einkommen einer radikalen Transformation aus. Kaum ein Unternehmen ist heute mehr in der Lage, Kernkompetenzen herauszubilden und geschützte Marktpositionen aufzubauen: In immer kürzeren Intervallen drängen neue Produkte und neue Teilnehmer auf den Markt. Es bleibt nur der Ausweg, durch immer kürzere Innovationszyklen dem Wettbewerb zu trotzen und bedingungslos voranzuschreiten. Jedoch: Unsere arbeitsteilige, hierarchische Organisation, die im Grundverständnis während der industriellen Revolution entstand, ist nicht in der Lage, dieses Dauerfeuer an Innovation zu leisten. Die Hierarchie fordert immer nur einen geringen Teil unserer Talente und Motivationen. In den seltensten Fällen wird danach gefragt, was man für die Organisation tun kann und möchte, sondern vielmehr wird ein Arbeitsgebiet und -verfahren zugeteilt und viele andere Ideen, Fähigkeiten und Motivationen werden als irritierend abgewiesen oder negiert.

Effizienzdoktrin erdrückt Kreativität in Unternehmen

Durch die Kostensenkungen der vergangenen Jahre haben sich zudem die Möglichkeiten und Freiräume für Experimente stetig reduziert. Unsere Tätigkeiten wurden zunehmend standardisiert und industrialisiert. Man vergaß, dass ein wesentlicher Erfolgsfaktor des Kapitalismus "trial-and-error"-Prozesse sind, Versuche die oft scheitern, aber notwendig sind, um neue Produktideen zu testen. Die schlanke Organisation kennt solche Experimentierräume nicht mehr, sie sind für sie ineffizient. So ist es kein Wunder, dass die Zufriedenheit der Mitarbeiter weltweit nur mehr 35 Prozent beträgt und stetig abnimmt. Folglich verwirklichen sich viele Wissensarbeiter nun jenseits der traditionellen Organisation: Sie entwickeln Open Software, schreiben journalistische Beiträge, bewerten Produkte, arbeiten an gemeinsamen kommunalen Projekten und stürzen manchmal Regime. Durch die Digitalisierung können wir als Individuen plötzlich mehr für uns und vor allem mit anderen tun.

Netarchien statt Hierarchien

Doch nun vollzieht sich ein eigenartiger und paradoxer Prozess: Jene Unternehmen, die Ideen, Motivationen und Schaffensfreude ihrer Mitarbeiter durch ihre rigiden Strukturen vertrieben und unterdrückt haben, wollen diesen "kognitiven Surplus" wieder zurück und am besten kostenlos! Sie brauchen ihn sogar dringend, weil nur so ihre erlahmende Innovationsfähigkeit wieder gestärkt werden kann. Wie eine aktuelle Umfrage zeigt, verwenden heute schon knapp 20 Prozent der deutschen Unternehmen in irgendeiner Art und Weise die Fähigkeiten dieser "freien Produzenten" aus dem Netz. Vorzugsweise im Marketing, im Kundenservice aber auch im Innovationsbereich (Open Innovation). Natürlich können Unternehmen diese Talente der Crowd nur nutzen, wenn sie sich der Arbeitsweise dieser neuer Mitarbeiterkategorie anpassen. Das Prinzip der individuellen "Selbststeuerung" und flüssigere Hierarchien breiten sich langsam aus. Durch die Koppelung der Hierarchie mit den neuen Kollaborationsformen aus dem Netz entstehen neue, hybride Organisationen: Netarchien. Und wir können unschwer prognostizieren, dass die Arbeit als ein solcher "freier Produzent" immer öfter nicht mehr ein Hobby, sondern ein Lebensstil wird. Mit dramatischen Konsequenzen. So werden wir wie niemals zuvor die Chance haben, interessante Dinge zu tun, indem wir auf Plattformen mal für die eine, mal für eine andere Unternehmung arbeiten.

Junge Frau in altem Büro
"Was passiert mit einem Individuum, das in dieser Meritokratie schwächelt und Hilfe braucht?" (© Photocase)

 

Unsicherheit als Preis der Freiheit?

Wir haben die Möglichkeit, uns durch digitale und kostenlos vermittelte Lerninhalte unser ganzes Leben lang weiterzubilden und uns beständig neu zu erfinden. Monotone Arbeit wird automatisiert. Aber wir werden auch zu einem "bloßen Individuum", welches für seine Unabhängigkeit den Preis der Selbstverantwortung tragen muss und dessen erratische Biographie vielleicht keinen großen Spannungsbogen mehr aufweist. Was passiert mit einem Individuum, das in dieser Meritokratie - dieser allein auf Leistung und Ergebnisse ausgerichteten Arbeitswelt - schwächelt und Hilfe braucht? Wie können die selbstbestimmten Individuen gegenüber monopolistischen Interessen geschützt werden? Die große Unsicherheit, die heute viele gegenüber der Zukunft der Arbeit trotz dieser historischen Möglichkeiten auf Selbstverwirklichung entgegenbringen, hat auch viel damit zu tun, dass diese jetzt schon erkennbare neue Arbeitswelt eine völlig andere Gesellschaft und Politik benötigt.

Prof. Al-Ani

Prof. Dr. Dr. Ayad Al-Ani hat 20 Jahre Erfahrung bei internationalen Beratungsunternehmen. Zuletzt war er Rektor und Professor an der ESCP sowie Professor an der Hertie School of Governance. Aktuell forscht Prof. Al-Ani am Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft.

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