Kultur, Wissen, Bildung

Haben wir unbewusstes Wissen,
das wir nutzen können?

17.01.2023
Kurz und knapp

Das Meiste, was wir wissen, müssen wir mühsam lernen. Doch wenn wir lernen, bilden wir nebenbei auch Wissen aus, das sich in Intuitionen oder Bauchgefühlen zeigt. Anderes unbewusstes Wissen lässt sich nur mithilfe trickreicher psychologischer Experimente hervorlocken. Und auch die Evolution hat uns das ein oder andere mitgegeben, das uns hilft, wenn nötig, schnell und unbewusst zu entscheiden.

Bewusstes Wissen macht Arbeit

Das, was man gewöhnlich unter Wissen versteht – wie die Hauptstädte Europas heißen, wie man Schach spielt –, müssen wir mehr oder weniger mühsam lernen. Dieses Wissen machen wir uns zwar nicht ständig bewusst, aber wenn uns zum Beispiel jemand fragt, wie die Hauptstadt von Frankreich heißt, fällt es uns in der Regel ein. Das kann auch mit Wissen gelingen, an das man sich schon sehr lange nicht mehr erinnert hat, ohne dass es ganz aus dem Kopf verschwunden wäre, etwa wenn man an Orte der Kindheit zurückkehrt und einem dort lange zurückliegende Ereignisse wieder einfallen. Dies ist aber genau genommen kein Wissen, von dem wir nichts wissen, wir hatten es nur gerade nicht präsent. Wenn es nötig ist, können wir es ausformulieren.

 

Wissen ist nicht gleich Wissen

Neben diesem expliziten Wissen haben Menschen auch Wissen, das sie wie nebenbei erlernt haben und an das sie nur selten bewusst denken. Forschende nennen es etwa intuitive Physik und intuitive Psychologie. Dazu gehört beispielsweise, dass Dinge bleiben, wo sie sind, wenn man sie nicht anstößt, und dass Menschen Überzeugungen und Absichten haben, die mitbestimmen, was sie tun.

Zudem haben wir Fähigkeiten, von denen wir nicht sagen können, wie wir sie zuwege bringen: Wie etwa erkennen Sie das Gesicht eines Freundes in einer Menschenmenge? Oder wie unterscheiden Sie einen Hund von einer Katze? Sie wissen einfach, wer da vor Ihnen steht, und Sie wissen, dass der Nachbar einen Hund an der Leine hat. Sie wissen auch, wie man in Ihrer Muttersprache korrekte Sätze formuliert und merken sofort, wenn etwas nicht stimmt – auch wenn Sie sich nie mit Grammatik befasst haben.

Eine andere Art unbewusstes Wissen entsteht, weil wir mehr wahrnehmen, als ins Bewusstsein vordringt. Wenn etwa Forschende ihren Versuchspersonen Bilder nur so kurz zeigen, dass sie diese nicht bewusst wahrnehmen können, sind die Probandinnen und Probanden oft dennoch in der Lage, Fragen zu diesen Bildern richtig zu beantworten.

Und dann haben wir eine ganze Reihe von „Voreinstellungen“ aus unserer Evolutionsgeschichte mitgenommen: sich im Dunkeln zu fürchten, sich vor verdorbenen Lebensmitteln zu ekeln, vor Tiefe zurückzuschrecken, Süßes dem Bitteren vorzuziehen. Auch dies kann man als eine Art unbewusstes Wissen über mögliche Gefahren betrachten.

Am nächsten aber kommen einem Wissen, von dem wir nichts wissen, vielleicht die Intuitionen oder Entscheidungen „aus dem Bauch heraus“. Diese entstehen allerdings weder aus dem Nichts noch aus übersinnlichen Fähigkeiten, sondern sind ein Nebenprodukt von bewusstem Wissenserwerb und langjähriger Übung. Der Schachexperte „sieht“, welcher Zug erfolgversprechend sein könnte, die Ärztin „weiß“, dass mit der Röntgen-Aufnahme etwas nicht stimmt, und der Mitarbeiter „fühlt“, dass die Kollegin nicht ehrlich zu ihm war.

Wie solche Intuitionen genau funktionieren, wird noch diskutiert. Forschende gehen davon aus, dass ihnen eine Art Mustererkennung zugrunde liegt. Demnach erinnern Menschen sich unbewusst an schon einmal erlebte Situationen und vergleichen diese mit einer aktuellen. Und sie erinnern sich an Strategien, mit denen sie schon einmal erfolgreich waren, und verwenden diese erneut.

 

…aber Nichtwissen macht auch nichts

Oft kommen wir aber auch ganz gut zurecht, ohne viel zu wissen: Welche Stadt ist größer: San Diego oder San Antonio? „Keine Ahnung, vielleicht San Diego?“ Richtig. Dieses Beispiel stammt von dem Kognitionsforscher Gerd Gigerenzer. Er stellte die Frage amerikanischen Studierenden, die sie zu zwei Dritteln richtig beantworteten. Und er stellte sie deutschen Studierenden, die sie alle richtig beantworteten, obwohl sie doch von den USA viel weniger wussten. Wie kann das sein? Die Amerikaner und Amerikanerinnen dachten nach und irrten sich, so der Forscher. Die Deutschen hingegen verfuhren nach der simplen Heuristik: San Diego klingt bekannter, ist also vermutlich größer.

 

Und worauf soll man sich nun verlassen?

Ob es sinnvoll ist, sich bei Entscheidungen auf Abkürzungen und Intuitionen zu verlassen, ist nicht leicht zu sagen. Für die Bauchgefühle spricht, dass man viele Aspekte schlecht verbalisieren und schwer sinnvoll gegeneinander aufrechnen kann. Wenn ich eine neue Jacke kaufen will, wie soll ich den Stoff der Jacke, der mir nicht so gut gefällt, gegen ihre echt geniale Farbe abwägen, den eigentlich zu hohen Preis gegen den perfekten Sitz?

Für die Intuitionen spricht auch die Überlegung, dass wir bewusst immer nur mit einer beschränkten Anzahl an Informationen umgehen können, das Unterbewusste hingegen eine Art Quintessenz aus einer viel größeren Menge an Informationen zu liefern scheint – je mehr Erfahrung man hat, desto besser. Expertinnen und Experten sollten sich demnach, so meint Gigerenzer, auf ihre Intuitionen verlassen. Langes Grübeln führe bei ihnen oft zu schlechteren Entscheidungen als die erste Idee. Wer kein Fachmensch ist, sollte hingegen besser gründlich nachdenken.

Sicher ist: Wir bekommen nur einen kleinen Teil von dem bewusst mit, was in unserem Kopf vorgeht, wenn wir die Welt wahrnehmen, über Probleme nachdenken und uns zu Handlungen entscheiden. Sicher ist auch: Wir sollten unsere Intuitionen nicht geringschätzen, denn sie kommen nicht aus dem Nichts, sondern fassen unsere Erfahrungen zusammen. Eine Garantie, mit ihrer Hilfe richtig zu entscheiden, gibt uns allerdings niemand. Auch Regeln, Rationalität und der Austausch mit anderen sollte man deshalb nicht leichtfertig über Bord werfen.

Haben wir also unbewusstes Wissen im Gehirn? Ja, und man kann es auch verwenden. Doch man kann nicht bewusst darauf zugreifen, man kann es nicht abrufen oder ausbuchstabieren. Es funktioniert aber trotzdem.

 

Intuition und Risikokompetenz – Interview mit Prof. Dr. Gerd Gigerenzer in der ZEIT-Akademie.