Wissenschaftsjahr 2007 - Gedächtnis



Gedächtnis

Lässt sich das Gedächtnis mit einem Blatt Papier vergleichen, auf dem einmal Notiertes dauerhaft fixiert ist? Oder gleicht es eher einer Schiefertafel, die immer wieder neu überschrieben wird? Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, stellte sich diese Fragen, als er auf seinem Schreibtisch ein neuartiges Gerät vor sich hatte, das unter dem Namen "Wunderblock" zum Verkauf an Kinder bestimmt war. Das "Wunder" bestand darin, dass der Block ohne Tinte oder Kreide beschrieben werden konnte und sich die Schrift anschließend wieder löschen ließ. Als Freud die Wachsschicht genauer betrachtete, die für diesen Trick verantwortlich war, stellte er fest, dass unter einem bestimmten Blickwinkel alles bisher Geschriebene noch lesbar war.

Im Zusammenhang mit dem Wunderblock notierte Freud, dass "eine immer bereite Aufnahmsfläche" sowie die Fähigkeit zur Speicherung von "Dauerspuren der aufgenommenen Aufzeichnungen" die wesentlichen Merkmale des menschlichen Gedächtnisses seien: Es darf keinen Aufnahmestopp an Informationen geben und gleichzeitig muss es möglich sein, das Aufgenommene wenigstens in Spuren zu bewahren. Doch was passiert, wenn diese mitunter kaum entzifferbaren Spuren sich als vollständig falsche Fährten erweisen?

Das Gedächtnis, so die These von Maurice Halbwachs, dem französischen Philosophen und Soziologen, sei kein sicherer Speicher für Erfahrungen und Eindrücke. Statt dessen würden alle Informationen, die einmal hineingelangt sind, später umsortiert und vielfältigen Überarbeitungen unterworfen. Entscheidend für die Formierung des Gedächtnisses ist für Halbwachs weniger das Material aus der Vergangenheit, sondern dessen Neubewertung, die mit jedem Erinnerungsvorgang vorgenommen wird. Neuere Ansätze aus der Gehirn- und Gedächtnisforschung betonen diesen Aspekt des instabilen, von äußeren Faktoren maßgeblich beeinflussten Gedächtnisses.

Wenn sich das individuelle Gedächtnis von außen manipulieren lässt, stellt sich die Frage, wie das manipulierende "äußere Gedächtnis" beschaffen ist. "Kulturelles Gedächtnis" und "kollektives Gedächtnis" wurden daher in den vergangenen Jahrzehnten als Forschungsfelder etabliert. In Anlehnung an Freuds Begriff der "Traumarbeit" ist hier von "Gedächtnisarbeit" die Rede. Diese widmet sich zum einen den noch vorhandenen materiellen Zeugnissen: Die unscharfe, oft vage Erinnerung wird durch eine gezielte Verankerung von "Erinnerungsorten" in der Gegenwart dauerhaft fixiert und das Verdrängte wird freigelegt. Exemplarisch dafür steht das Gelände der "Topographie des Terrors" in Berlin, das durch das Engagement einer Bürgerinitiative vor dem Verfall gerettet werden konnte. Es wurde zum Vorbild für eine Reihe von Dokumentationszentren, die in Abwendung von traditionellen Denk- und Mahnmalen dort eingerichtet wurden, wo die Ereignisse tatsächlich stattgefunden haben.

Zum anderen besteht die "Gedächtnisarbeit" darin, im Bewusstsein, dass das kulturelle Gedächtnis stets vom Vergessen bedroht ist, ein dichtes Netz von Quellen zu sichern. Besonders im Horizont der Zeitgeschichte, zu deren Ereignissen noch lebende Zeitzeugen befragt werden können, gelang es, die Vielstimmigkeit des Gedächtnisses durch Projekte wie die Videodokumentation von Überlebenden des Holocaust zu bewahren (Shoah Foundation Institute for Visual History and Education, University of Southern California).

Auch die Geschichtswissenschaft hat sich in den letzten Jahren - angeregt durch den französischen Historiker Pierre Nora und seine "Lieux de mémoire"- auf Erinnerungsräume konzentriert: Solche Gedächtnisorte sind Plätze genauso wie Symbole und historische Ereignisse, Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung also mit einem symbolischen und emotionalen Überschuss. Was so entstanden ist, ist eine neue Form der Geschichtsschreibung, in der das Symbolische nicht ausgegrenzt wird, sondern im Mittelpunkt steht. Das erscheint nicht wenigen Wissenschaftlern als angemessener, weil sich auch Nationen zu einem guten Teil symbolisch konstituieren. Die permanente Reorganisation des Gedächtnisses ist hier bereits mitgedacht.

Wie stark das Bedürfnis ist, sich nicht allein auf das individuelle Gedächtnis, die mündliche Überlieferung und das geschriebene Gedächtnis der nüchtern protokollierenden Geschichtswissenschaft zu verlassen, zeigt sich auch im Bereich des Denkmalschutzes. Längst genügt es nicht mehr, Zerstörungen zu verhindern, wie sich an den Debatten über den Abriss des "Palasts der Republik" und den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses ablesen lässt. In welcher Weise der kulturelle Gedächtnisspeicher manipuliert wird, ist eine politisch brisante Frage.


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