Wissenschaftsjahr 2007 - Irrtum

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Irrtum

Dass Irren menschlich und damit unausweichlich ist, hat bereits Seneca der Ältere festgestellt und damit indirekt den Jahrtausende währenden Kampf gegen den Irrtum als Irrtum entlarvt. Das Nicht-Menschliche, die Natur oder die Maschine, kann nicht irren, weil ihm dazu die Voraussetzung, das Bewusstsein, fehlt. Als Irrtum gilt eine falsche Annahme, die von ihren Anhängern für wahr gehalten wird. Objektive Falschheit und subjektive Überzeugung müssen also notwendig zusammenkommen.

Die abendländische Philosophie, die sich von ihrem griechischen Beginn an als Wahrheitssuche verstand, richtet sich am Irrtum auf. Zunächst war es nur die irrende Masse, von der sich der Weisheitsliebende abzuheben suchte. Bald aber verlagerte sich die Diskussion auf den Bereich der Philosophie selbst. Sextus Empiricus, der Skeptiker, hielt den Irrtum für allgegenwärtig und bestritt, dass gesichertes Wissen möglich sei. Die Stoiker dagegen hielten daran fest, es gebe wahre Erkenntnis, die sich unausweichlich offenbare, die unmittelbar einleuchte. Anders schien in ihrer Theorie Tugend und Glück nicht möglich zu sein.

Der Philosoph und Kirchenlehrer Augustinus wies einen anderen Weg, indem er den Irrtum auf eine unerschütterliche Wahrheit zurückführte: "Si fallor, sum" ("Wenn ich irre, bin ich"). Diese Formel bildet auch den systematischen Ausgangspunkt der natürlichen Theologie: Das eigene Scheitern lässt den Menschen die Absolutheit Gottes als grundlegende Wahrheit erkennen. Im europäischen Mittelalter erwuchs dem Irrtum in der daran anschließenden Glaubenshaltung der mächtigste Gegner. Der Frühscholastiker Anselm von Canterbury wertete die Bejahung Gottes als Voraussetzung für die Vermeidung jeden Irrtums. Er betonte jedoch, dass diese Bejahung nicht mit sicherer Gewissheit verwechselt werden dürfe. Thomas von Aquin, der den Irrtum für die Grenze des Intellekts hielt, ging von einer theoretischen Irrtumsfreiheit aus, solange nicht Imagination und Sinneswahrnehmung im Spiel waren.

Am "Novum Organum" des Londoner Universalgelehrten Francis Bacon aus dem Jahre 1620 wird deutlich, wie sich diese Ansicht schließlich in ihr Gegenteil verkehrte. Die Philosophie seiner Zeit, so befindet Bacon, sei ein einziger Irrtum. Man habe sich vielmehr um die Interpretation der Natur aufgrund sorgfältiger Beobachtungen zu bemühen.

Vor vier Irrtumskomplexen, Bacon nennt sie "Idole", müsse der Forscher besonders auf der Hut sein: vor psychologisch bedingten Täuschungen, unhinterfragt übernommenen Dogmen, perspektivischen Verzerrungen durch den Verstand sowie "Trugbildern des Marktes", die dem Sprachgebrauch anzulasten seien. Überhaupt war die immerzu mehrdeutige Sprache für Bacon ein einziger Quell von Missverständnissen. An ihre Abschaffung sei natürlich nicht zu denken; aber man solle versuchen, sich der metaphorischen Natur der Sprache stets bewusst zu sein.

In Bacons neuartiger Lehre ist ein revolutionärer Gedanke am Werk, ein Perspektivwechsel, der die moderne von der alten Welt trennt. Anklänge an Überlegungen Sigmund Freuds, Michel Foucaults, Immanuel Kants und Friedrich Nietzsches finden sich bereits in der Idole-Theorie. Was sich fundamental verändert hat, ist die Haltung gegenüber dem Irrtum. Wir nähern uns der Natur mittels Modellen, mit deren Fehlerhaftigkeit wir immer rechnen müssen. Nichts wäre falscher, als die Möglichkeit des Irrtums völlig auszuschließen. Vielmehr muss ein Modell getestet,  es muss also gezielt nach seiner Widerlegung gesucht werden. Ein einziges Gegenbeispiel bringt eine ganze Theorie zum Einsturz.

An diese Lehre schließt dreihundert Jahre später Karl Poppers "Kritischer Rationalismus" an: Nur widerlegbare Theorien sind nach Popper empirisch-wissenschaftlich, alle anderen metaphysisch. Das war speziell gegen die Vertreter des "Logischen Empirismus" wie Rudolf Carnap oder Herbert Feigl gerichtet, die glaubten, nur belegbare Theorien seien wissenschaftlich. Popper wie Bacon dagegen zollten dem Irrtum ihren Respekt. Mehr noch: Eine erwiesenermaßen wahre Theorie kann es überhaupt nicht geben, weil sie im nächsten Moment widerlegt werden könnte. Es reicht jedoch vollkommen aus, mit lediglich "bewährten" Theorien zu operieren. Irren ist also nicht nur menschlich, es ist in spezieller Weise wissenschaftlich.


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