Wissenschaftsjahr 2007 - Lust

Springen Sie direkt: zur Hauptnavigation zu zusätzlichen Informationen





Lust

Der sich seit dem 18. Jahrhundert bis zur Neurokybernetik hartnäckig haltende Verdacht, der Mensch sei eigentlich eine Maschine, konnte einen zentralen Einwand nie entkräften: Die Empfindung von Schmerz und Lust ist nur dem menschlichen Geist eigen, keinem Computer. Die allzu menschliche Lust aber hatte es nicht einfach in der abendländischen Tradition. Kaum ein Begriff schien anstößiger. Und doch ging von der hierin geballten Energie die größte Faszination aus.

Der griechische Philosoph Platon nahm an, Lust resultiere allein aus der Beseitigung von Schmerz: zwei flüchtige Zustände diesseits und jenseits der anzustrebenden neutralen Grundhaltung. Sein Schüler Aristoteles erklärte die Lust ganz anders, nämlich als Begleiterscheinung bei der Verwirklichung eines Vermögens. Lust resultiert demnach aus einem Tun, nicht erst aus seinem Ergebnis. Weil etwas gut ist, so nahm Aristoteles an, gefällt es uns.

Diesen Grundsatz stellte erst der Hedonist Epikur auf den Kopf: Weil etwas Lust verschafft, heißen wir es gut. Unerhört schien es, ausgerechnet die subjektive Leidenschaft zum Prinzip des Guten zu erheben: "Die Lust ist Anfang und Ende des seligen Lebens". Die Lehre von der Lustmaximierung im Diesseits war jedoch für Missverständnisse ideal geeignet; ein Schreibtisch-Lüstling wie etwa sein Kollege Aristipp war Epikur keineswegs. Die körperlichen Lüste schienen ihm vielmehr den geistigen Freuden im Weg zu stehen. Sie waren zu beseitigen, indem man dem Körper gab, was er brauchte, und zugleich die Begierden zügelte.

Die stoische Philosophie strebte dagegen nach einem vernunftgeleiteten Zustand jenseits der Leidenschaften, nach "Apathie". Mit dem Christentum setzte eine Unterscheidung der Leidenschaften ein. An die Stelle der abgelehnten „cupiditas“ rückte die "caritas", die freudige Erregtheit im Hinblick auf das höchste Gute. Nur in mystischen Bestrebungen rumorte das alte Begehren fort. Ansonsten war die sinnliche Lust für lange Zeit in Verruf gebracht.

Der Rationalismus des 17. Jahrhunderts entdeckte sie wieder. Britische Moralisten, Sensualisten und Utilitaristen untersuchten, inwieweit die Lust den Menschen zu Handlungen motiviere. Von hier hätte ein direkter Weg zu Sigmund Freuds „Lustprinzip“ führen können, nach dem alle seelische Aktivität das Ziel hat, Lust zu verschaffen, wobei das vernünftige "Realitätsprinzip" oft fordere, die Triebbefriedigung aufzuschieben.

Die Aufklärung sorgte für einen Umweg: Der deutsche Philosoph Immanuel Kant trennte die Lust vom Begehrungsvermögen. Die Grundlage dafür bildet seine Unterscheidung von Vernunft und Glück (Angenehmes, Sinnlichkeit). Das Schöne wiederum steht für Kant eigentümlich zwischen diesen beiden Größen. Hier hat die entschärfte Lust ihren Ort: als ästhetisches Gefühl. Dieses führe zu ästhetischen Urteilen, welche – anders als beim begehrten Angenehmen – interesselos gefällt würden und damit "subjektiv allgemeingültig" seien. Aber: Lust und Unlust interesselos? Der Geist doch eine Maschine? Der Philosoph Theodor W. Adorno brachte das Unbehagen an diesem formalistischen Konzept auf den Begriff: Die "Lust ohne Lust" habe Kant erfunden, einen "kastrierten Hedonismus".

Dass sich unterdessen die Lust in den Künsten weiter ausbreitete, eindeutiger wurde, von der immer vorhandenen Sinnlichkeit in der Malerei etwa zur Erotik vorstieß und von dort bis an die Grenze zur Pornographie im frühen zwanzigsten Jahrhundert, heißt keineswegs, dass sie in den korrespondierenden Wissenschaften gleich in dieser Weise konzeptualisiert wurde.

Das in der Theorie ausgegrenzte Begehren kehrte spätestens mit dem Semiologen Roland Barthes zurück: Er beschwor in seinem Essay von 1973 "Die Lust am Text" einen libidinös aufgeladenen Lese-Akt: Sinnliches Vergnügen könne ein Text bereiten, weil der Lesende sich in ein anonymes Subjekt auflöse. Von der kantischen Lust an der Ordnung, "plaisir", wird die wollüstige "jouissance" unterschieden. Ihr entspricht nach Barthes der zeitgemäße Text voller Brechungen, an denen der Sinn sich zurückkrümmt ins rhetorische Material: "Texte der Wollust. Die Lust in Stücken; die Sprache in Stücken; die Kultur in Stücken." Dieser unausgesetzten Verwandlung des Sprachsinns gilt die ganze Aufmerksamkeit der Strukturalisten. Hier kommt die Zeichentheorie mit der von Sigmund Freud geprägten Psychologie zusammen in der Sicht, dass die in der Lust akkumulierte Energie nicht nur Gefahren birgt, sondern durchaus als Antrieb wirken kann: der Kreativität etwa.


Springen Sie direkt: zur Hauptnavigation zum Seitenanfang