Wissenschaftsjahr 2007 - Möglichkeit

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Möglichkeit

"Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch Möglichkeitssinn geben", schreibt Robert Musil in seinem Roman "Der Mann ohne Eigenschaften". Und der Schriftsteller erläutert: "So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist." Das Mögliche, das Musil dann in seinem großen Roman behandelt, umfasst in seiner Lesart "die noch nicht verwirklichten Absichten Gottes" und hat "etwas sehr Göttliches in sich, ein Feuer, einen Flug, einen Bauwillen und bewussten Utopismus, der die Wirklichkeit nicht scheut, wohl aber als Aufgabe und Erfindung behandelt".

Welche Verheißungen in Möglichkeiten liegen, ist dem Roman gut zu entnehmen. Bis auf Aristoteles geht die Ansicht zurück, dass nicht allein das Wirkliche, sondern auch das noch nicht Verwirklichte möglich sei. Eine Möglichkeit ist also etwas, das existieren könnte, aber (noch) nicht existiert – potentielles Sein. Wobei es oft heikel bleibt, ob sich solche Möglichkeiten – erst recht einer anderen Gesellschaftsform oder eines anderen Lebens – in der Wirklichkeit ohne Verluste realisieren lassen. Friedrich Schiller besingt in seinem Gedicht "Poesie des Lebens" das "grenzenlose Reich der Möglichkeiten", ordnet es aber dem "freien Geist" zu, der nur leider durch die Gegenwart "mit strengen Fesseln" gebunden werde.

Es ist kein Zufall, dass dieser Text mit einem literarischen Zitat beginnt, denn was ist Literatur anderes als eine mögliche Wirklichkeit. Aufgrund der Fähigkeit, "mögliche Welten" hervorzubringen, galt der Künstler schon Leibniz als zweiter Gott. Die Literatur-, ja die Kunsttheorie insgesamt nähert sich spätestens seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts ihren Gegenständen vornehmlich in dieser respektvollen Weise: sei es im Rahmen einer werkimmanenten Betrachtung – die mögliche Welt als autonomes Gebilde –, sei es in der engagierten Analyse, die eine auf die Wirklichkeit bezogene Gegenwelt unterstellt. Diese Anerkennung der Möglichkeitsdimension ging jener anderen, dekonstruktiven Entwicklung voraus, die auch die Wirklichkeit, insofern wir diese meist nur vermittelt wahrnehmen, als so absolut und wirklich gar nicht mehr gelten lassen wollte.

Dass Möglichkeiten auch anstrengend und überfordernd sein können, kann man der antiken Fabel von Buridans Esel entnehmen, der zwischen zwei gleich großen und gleich weit entfernten Heuhaufen verhungerte, weil er sich für keine der beiden Möglichkeiten entscheiden konnte. Dass es aber des Möglichkeitssinns bedarf, um die Wirklichkeit – die vielleicht auch nur eine Konstruktion ist – zu beschreiben, findet auch außerhalb der Literatur und der Literaturtheorie viele Anhänger. Ein jüngerer Klassiker in dieser Denkweise ist die Untersuchung "Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie" von Peter L. Berger und Thomas Luckmann, erschienen 1966.

Auf jeden Fall ist das Umgehen mit Möglichkeiten längst selbstverständlicher Teil der gelebten Wirklichkeit geworden. Schließlich glaubt in der verwirklichten Moderne mit ihren rasanten technischen Entwicklungen kaum noch jemand, dass die Wirklichkeit, in der er heute lebt, zwangsläufig auch die Wirklichkeit von morgen sein wird. Nur geringe Änderungen, eine neue Erfindung in den Medien etwa oder abrupte Geschmackswechsel in der Mode, schaffen ganz neue Möglichkeiten, die sich dann in einer vollkommen veränderten Wirklichkeit niederschlagen können. Musils Satz, nach dem man die Wirklichkeit als „Aufgabe und Erfindung“ behandeln solle, beschreibt heute eine gesellschaftliche Realität.

Die Frage, welche Möglichkeiten Wirklichkeit werden sollen und welche nicht, ist dabei ein bevorzugtes Thema der Politik. Davon ausgeschlossen, verwirklicht zu werden, sind und bleiben allerdings logische Unmöglichkeiten. Ein Schimmel kann niemals ein schwarzes Pferd sein, denn das kann noch nicht einmal gedacht werden, ist also nicht denkmöglich. Per Definition ist so ein Pferd nun einmal weiß. Selbst wenn die Wirklichkeit eine Konstruktion ist, umgeben von einer Vielzahl von Möglichkeiten, heißt das noch lange nicht, dass alles möglich ist.


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