Wissenschaftsjahr 2007 - Yin und Yang



Yin und Yang

Die Grunderfahrung von Tag und Nacht hat dem Menschen ein zweipoliges Modell an die Hand gegeben, das leicht auf andere Bereiche der Wahrnehmung und des Denkens übertragbar war. Mit der Scheidung von Licht und Finsternis differenziert sich der Kosmos in sich: Nicht nur das Alte Testament, die meisten menschlichen Ursprungsmythen beziehen sich auf diesen Akt. Das aber ist mehr als eine schlichte Parallelität, nämlich die Eröffnung einer Kontaktzone zwischen den Kulturen auf dem Feld der bildlichen Ausdrucksweise.

In China sind seit dem vierten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung die Begriffe "Yin" für "das Dunkle“" und "Yang" für "das Lichte" verbreitet. Ursprünglich sollen sie sich auf die schattige und die sonnige Seite eines Hügels bezogen haben. Sehr schnell aber lud sich das Wortpaar mit universaler Bedeutung auf und stand für zwei zusammengehörige kosmische Kräfte, die einander bedingen und ablösen wie Tag und Nacht. In diesem harmonischen Prinzip schienen die regelmäßig wiederkehrenden Bewegungen der Welt ausgedrückt. Alles ließ sich zuordnen: Erde / Mond (Yin) – Sonne (Yang), Wasser (Yin) – Feuer (Yang), Frau (Yin) – Mann (Yang), Materie (Yin) – Energie (Yang), Welt (Yin) – Geist (Yang). Auch Krankheiten führte man auf ein Ungleichgewicht von Yin und Yang zurück.

Niedergeschrieben findet sich diese Weltanschauung im "I Ging", dem "Buch der Wandlungen", dem ältesten der dreizehn klassischen Bücher des Konfuzianismus. Die enthaltene Lebenslehre zielt auf Bejahung des Wandels: Der Mensch soll sich an der Veränderung selbst orientieren. Wenn, so fragt in diesem Zusammenhang das "Tai Chi" (das höchste Prinzip des Kosmos), die eine Seite eines Stockes Yin und die andere Yang darstelle, welche sei dann wichtiger? Die richtige Antwort: Der Stock selbst ist wichtig.

In die europäische Geistesgeschichte schlug diese Lehre mit der Wucht eines Kometen ein. Als Gottfried Wilhelm Leibniz Ende des 17. Jahrhunderts ein Exemplar des „I Ging“ in die Hände fiel, sah er darin eine einzige Bestätigung für seine Dyadik: Das aus den Ziffern "0" und "1" bestehende Binärsystem schien allen anderen Zahlensystemen bereits aufgrund seiner Einfachheit überlegen zu sein; nun wurde es auch noch fernöstlich abgesegnet. Der Universalgelehrte Leibniz ahnte nicht, dass er weniger eine taoistische Weisheit zum Leben erweckt als die mathematische Grundlage für das digitale Zeitalter geschaffen hatte.

Dass diese schlechteste aller Welten zwar als Vorstellung erscheine, im Inneren aber Wille sei, konstatierte über hundert Jahre später der Philosoph des Irrationalismus, Arthur Schopenhauer. Der blinde Wille müsse verneint werden, wolle man in Richtung Nirwana entkommen. Wieder liegt offenbar ein Modell der Polarität zugrunde. Schopenhauer bemerkt denn auch, die jüngere Naturphilosophie habe ganz richtig "das Auseinandertreten einer Kraft in zwei qualitativ verschiedene, entgegengesetzte und zur Wiedervereinigung strebende Tätigkeiten" erkannt, nur ein wenig spät: "In China ist jedoch diese Erkenntniß seit den ältesten Zeiten gangbar, in der Lehre vom Gegensatz des Yin und Yang."

Als anschlussfähig erschien die Lehre noch dem Begründer der Analytischen Psychologie, Carl Gustav Jung. Immerhin betont er in seinem wirkmächtigen Vorwort zur 1950 publizierten englischen Übersetzung des "I Ging" die Fremdartigkeit der altchinesischen Denkweise, um sie aber gerade deshalb den vermessenen Europäern zu verordnen. Weil die moderne Wissenschaft mit dem Kausalitätsprinzip den abendländischen Glauben an die reine Vernunft erschüttert habe, solle devot wie im "I Ging" mit Zufällen operiert werden statt mit Ursache und Wirkung.

Bis heute übt das dialektische Prinzip Yin-Yang eine gewaltige Faszination aus. Der Fokus der geisteswissenschaftlichen Beschäftigung mit dieser antiken Philosophie liegt allerdings heute auf der Betonung ihrer Alterität, die sich nur im historischen Zusammenhang angemessen verstehen lässt, nicht durch vorschnelle Überblendung zum Beispiel mit Hegels System oder gar durch esoterische Adaptionen.


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