Warum Polizeisirenen in 50 Jahren deutlich leiser heulen könnten

Der Klangforscher Prof. Dr. Holger Schulze erklärt, welche Geräusche unsere Städte im Jahr 2065 prägen werden

Er erforscht, wie Menschen unbewusst Geräusche in ihrem Alltag hören. Dazu bereitet er mit Kollegen, Künstlerinnen, Radiomachern und Unternehmen das Forschungsprojekt „Listening in the 21st Century“ vor. Prof. Dr. Holger Schulze, Professor für Musikwissenschaft an der Universität Kopenhagen, erläutert seine Vorstellungen von urbanen Geräuschpegeln im Jahr 2065 und die Veränderung von Stadtklängen vom 19. Jahrhundert bis heute.

Prof. Dr. Holger Schulze
Prof. Dr. Holger Schulze

Was untersuchen Sie in Ihrem Projekt?

Erinnern Sie sich, was Sie heute schon alles gehört haben? Vermutlich fanden sich nur wenige Momente, in denen Sie einer einzigen Klangquelle (z. B. Lautsprechermusik, Gespräch, Warnsignale) konzentriert über einen längeren Zeitraum gelauscht haben. Dennoch basieren nahezu alle Forschungen zum Hören der letzten 150 Jahre auf genau dieser, ich möchte sagen: Illusion von Exklusivität, Statik und Konzentration. Tatsächlich hören Menschen fast ausschließlich in Bewegung, in gedanklichem Abschweifen, in überwiegend verrauschten Situationen. Das gilt es zu erforschen.

Wie klingt die Vergangenheit?

Der Klang der Vergangenheit ist weniger pauschal als anhand konkreter Lebenssituationen zu beschreiben. Die vorherrschenden Materialien (z. B. Holz statt Plaste, Bambus statt Aluminium, Bronze statt Stahl) in Verbindung mit den gängigsten Handlungen der Menschen und ihrer Gerätschaften (z. B. Stahlreifen auf Kopfsteinpflaster statt Gummireifen auf Asphaltfahrbahnen, dauerhaft offene Feuerstellen statt elektrischer Kochfelder) bringen die charakteristischen Klänge hervor.

Wie hat sich der Stadtklang in den letzten Jahrhunderten verändert?

Die Industrialisierung, die Elektrifizierung und insbesondere die Automobilisierung des täglichen Lebens hat die vorherrschenden Klänge entscheidend umgewälzt. Waren brennende Gaslaternen, Dampfmaschinen und strombetriebene Fabriken zunächst noch bejubelte Zeichen eines Fortschritts, sanken die begehrten Zukunftsklänge des 19. oder mittleren 20. Jahrhunderts herab zu bemitleideten Störgeräuschen einer alten Zeit. Im besten Fall werden sie zum Freizeitvergnügen musealisiert, als schrullige Antiquität: Dampfmaschinen, Oldtimer, Lochkartenautomaten, Transistorradios, Diskettenlaufwerke.

Wie werden Städte in 50 Jahren klingen? Und wie in 500 Jahren?

Bis 2065 kann sich einiges grundlegend verändert haben. Kalifornien prüft gegenwärtig, ob Fahrzeuge, die mit fossilen Brennstoffen betrieben werden, schon im Jahr 2030 ganz verboten werden. Bis 2065 kann dies aufgrund drastisch verteuerter Ölförderkosten auch global der Fall sein. Aktuelle Debatten über den Klang von Elektroautos wären hinfällig, wenn auf den Straßen nur noch Fahrräder oder Trams neben Elektromotoren zu hören wären. Der lauteste Klang wäre dann genau dieses Elektrosurren. Polizei- und Feuerwehrsirenen könnten wieder mit deutlich geringeren Dezibelzahlen die nötige Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Wenn Privat-, Dienstleistungs-, Überwachungs- und Lieferdrohnen aber überhand nehmen und ihr Betrieb weniger reguliert wird als nötig – hören wir dann auch über uns, selbst vor Fenstern im 27. Stockwerk, zur Tages- und Nachtzeit kleine Elektromotoren schnarren?

Kaum vorstellbar dagegen ist das Leben im Jahr 2515. Historische Veränderungen seit 1515 lassen vermuten, dass wir von heute aus die Regierungsformen, die Formen täglicher Ernährung, die Kommunikationswege oder maßgebliche Formen der Unterhaltung kaum mehr verstehen könnten. Welche Sprachen, sozialen Praktiken und politischen Widerstandsformen werden viele Millionen Flüchtlinge in die Städte und Landstriche der Nordhalbkugel gebracht haben, die aus Regionen der Südhalbkugel flohen? Große Wanderungen, wie sie mit dem postindustriellen Klimawandel bevorstehen, sind historisch stets konflikthaft und reformierend in einem. Andere musikalische Genres, neue Dialekte, auch Praktiken des Zusammenlebens werden die europäischen Kulturen durchziehen. Aus Sicht eines Forschers aus Salvador de Bahia in Brasilien ist Berlin gegenwärtig eine vergleichsweise stille Stadt: neue Soundsysteme, neue Formen des Feierns, des städtischen Verkehrs und Handels werden diese Stadt womöglich stärker verändern als das Verschwinden der Benzinmotoren.

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