Wissenschaftsjahr 2007 - "Es fehlt an Kompromisslosigkeit", ein Interview mit Oliver Primavesi

Springen Sie direkt: zur Hauptnavigation zu zusätzlichen Informationen





"Es fehlt an Kompromisslosigkeit", ein Interview mit Oliver Primavesi

???aural:Bildanfang???Der Münchner Altphilologe und Leibniz-Preis Träger Oliver Primavesi ???aural:Bildende???

Herzlichen Glückwunsch, Herr Prof. Primavesi, Sie werden heute mit dem Leibniz-Preis geehrt. Das ist die höchstdotierte deutsche Auszeichnung für Wissenschaftler. Wissen Sie schon, wie Sie die 2,5 Millionen Euro einsetzen?

Ja, ziemlich genau. Ich werde mit dem Geld lange gehegte Editions-, Kommentar- und Buchprojekte sowohl auf dem Gebiet der antiken Philosophie, als auch im Grenzgebiet zwischen Philologie und Archäologie, verwirklichen. Ich habe mich intensiv mit Neufunden aus dem vorplatonischen Zeitalter beschäftigt. Nun schwebt mir eine Synthese aus der Arbeit meiner Vorgänger und meinen eigenen – auf diesen Neufunden beruhenden – Forschungsergebnissen vor. Bisher hatte ich befürchtet, diese Projekte während meiner aktiven Dienstzeit nicht in die Tat umsetzen zu können. Nun kann ich wissenschaftliche Mitarbeiter zur Bearbeitung von Teilprojekten einstellen, internationale Tagungen organisieren und meine nicht forschungsbezogenen Dienstpflichten zu einem gewissen Teil an Vertreter delegieren.

Sie sind Gräzist, wie sind Sie eigentlich zur klassischen Philologie gekommen?

Als ein typisches Produkt des hessischen Schulwesens der siebziger Jahre. Latein wurde an meiner Schule nur fünf Jahre lang angeboten, Griechischunterricht gar nicht. Die typische Schulstunde war geprägt von mäßigen Anforderungen an das Kurzzeitgedächtnis; ein großes, vielleicht zu großes Gewicht wurde „kritischen“ Meinungsäußerungen über Gott und die Welt beigemessen. Die einzigen Orte, an denen ich während meiner Schulzeit eine Chance zu kompromisslosem geistigem Training hatte, waren der Mathematik-Leistungskurs und die Klavierstunde am Konservatorium. Doch als ich kurz vor dem Abitur durch Zufall an die Schulausgaben der Horaz-Oden geriet, die meine Großmutter als junges Mädchen in der Schule benutzt hatte, da wurde mir bald klar, dass es Präzision und künstlerische Disziplin auch und gerade im Medium der Sprache gibt. So wählte ich zu Beginn meines Musikstudiums das Lateinische als Zusatzfach. Mit dem Lateinstudium war die segensreiche Verpflichtung verbunden, Griechisch zu lernen, was bei mir dann einen vom Grau-in-Grau des Schulunterrichts vollends unbelasteten amour fou auslöste.

Haben Sie jemals den Ausdruck „tote Sprachen“ verwendet, wenn die Rede von Latein oder Altgriechisch war?

Nein, noch nie. Sprachliche Kommunikation ist nicht darauf beschränkt, beim Bäcker ein Croissant zu bestellen, oder am Fernsehgerät einer Daily-Soap zu lauschen. Es gibt auch literarische Kommunikation, die auf der Auseinandersetzung mit Texten basiert. Nehmen sie die Philosophen Platon und Aristoteles. Der originale Wortlaut ihrer Argumentationen und Gedanken wird weltweit so intensiv diskutiert, als ob es sich um die einflussreichsten zeitgenössischen Denker handelte.

Würden sie Schülern empfehlen, Latein und Griechisch zu lernen?

Es gibt einen Aberglauben, der unsere Schulen seit den Schulreformen Wilhelms des II. immer weiter in eine mediokre Kurzatmigkeit treibt. Dieser Aberglaube besteht in der Annahme, dass Jugendlichen in der Schule unmittelbar die Fertigkeiten andressiert und die Fakten eingetrichtert werden könnten, die sie später im Berufsleben benötigen. In Wahrheit bedarf der Jugendliche, der später einmal etwas leisten soll, zunächst der ruhigen Einübung methodischer Trainingsverfahren und der Gewöhnung an ihre disziplinierte, unablässige Anwendung. Dieses Kriterium legt die strikte Konzentration auf wenige Fächer nahe, und überdies auf solche, die für das tägliche Training überhaupt geeignete Anforderungen bereitstellen. Das sind – neben Sport, Instrumentalspiel und Mathematik – vor allem die alten Sprachen, deren aktive schriftliche Beherrschung aufgrund ihrer strukturellen Differenz gegenüber den europäischen Gegenwartssprachen nur im Wege immanenter Sprachreflexion erreicht werden kann und die sich deshalb dem Modus des Plapperns radikal entziehen: Nietzsche hat Deutsch schreiben gelernt, indem er beim Lateinschreiben den Stil des Sallust zu meistern suchte. Die zusätzliche Belohnung besteht dann darin, dass erstaunlich viele der besten literarischen und philosophischen Texte der Weltliteratur auf Griechisch, und ein paar davon auch auf Latein verfasst sind.

Können Sie jungen Menschen auch zur Aufnahme eines geisteswissenschaftlichen Studiums raten?

Der Zustand unserer höheren Schulen bringt es mit sich, dass der Wert des Abiturs stark nachgelassen hat. Also brauchen wir in allen Fächern Aufnahmeprüfungen. Ich halte diese Eingangshürden für ein Gebot der Humanität, um jungen Menschen Irrwege zu ersparen. Bei entsprechend gutem Abschneiden in einer solchen Prüfung würde ich jungen Menschen nachdrücklich zum Studium einer präzisen und anspruchsvollen Geisteswissenschaft raten.

Unter den zehn diesjährigen Leibniz-Preisträgern befinden sich zwei Geisteswissenschaftler, die übrigen haben einen naturwissenschaftlichen Hintergrund. Ist das aus Ihrer Sicht eine angemessene Quote?

Ich selbst habe früher einmal gemutmaßt, dass bei der Zuerkennung der Leibniz-Preise intendierte Fächerquoten womöglich eine gewisse Rolle spielen. Aber nachdem nun in zwei aufeinander folgenden Jahren ein Leibniz-Preis an Vertreter der Gräzistik gegangen ist – im vergangenen Jahr war meine Marburger Kollegin Gyburg Radke unter den Preisträgern –, besteht ja eine gewisse Hoffnung, dass das nicht so ist.

Sie haben sich in ihrer Arbeit intensiv mit vorsokratischen Denkern auseinandergesetzt, Ihre Forschungsergebnisse treffen in der Fachwelt auf hohe Resonanz – davon zeugt nicht zuletzt die heutige Preisverleihung. Gestatten Sie trotzdem eine provozierende Frage: Sähe die Welt ohne Ihre Studien anders aus?

Ich hatte das Glück, an der ersten Erschließung einer Reihe vorsokratischer Text-Neufunde mitarbeiten zu dürfen, die, wenn sie einmal zureichend verstanden sein werden, jedenfalls unser Bild von Philosophie und Dichtung des klassischen Zeitalters verändern können. Wie hoch man die Bedeutung der wieder gewonnenen klassischen Gedanken und Ausdrucks-Formen für das Aussehen der Welt insgesamt einschätzt, hängt naturgemäß wesentlich von der kulturellen Praxis des einzelnen ab. Wer für sich persönlich in der Lyrik die wichtigste und höchste Kunstform sieht, für den kann ein auf Papyrus wieder gefundenes Gedicht der Sappho eine Offenbarung sein; für den hingegen, der lieber Harald Schmidt anschaut, nicht.

Ist die Frage nach dem Nutzen der Geisteswissenschaften für die Gesellschaft überhaupt berechtigt oder gar zulässig?

Diese Frage ist nicht nur berechtigt oder zulässig, sondern unabweisbar. Die Diskussion dieser Frage kann allerdings nur dann über Gemeinplätze hinauskommen, wenn sie mit der Bereitschaft der Gesellschaft einhergeht, ihre eigene kulturelle Verfassung kritisch zu beleuchten. Wenn die Gesellschaft bereit ist, in dieses, gewiss nicht sehr erfreuliche Spiegelbild zu schauen, dann ergibt sich ein Kriterium für den gesellschaftlichen Nutzen der Geisteswissenschaften von selbst. Als nützlich erweist sich dann nämlich diejenige Geisteswissenschaft, deren Methoden und Ergebnisse zu einer gesamtgesellschaftlichen Kultur der Anstrengung, der Genauigkeit, der Subtilität, der rationalen Bewältigung von Komplexität beitragen.

Welche Disziplinen meinen Sie?

Unbeschadet der in diesem Zusammenhang zentralen Bedeutung der Mathematik und des Instrumentalspiels denke ich im Bereich der Geisteswissenschaften vor allem an die Disziplinen, die unter der sachwidrigen Bezeichnung „kleine Fächer“ zusammengefasst werden, und die wohl nicht zuletzt deshalb „klein“ sind, weil man dort, um mit Nietzsche zu reden, noch weiß, was ein Fehler ist. Sie werden mir nachsehen, wenn ich hier neben Sinologie, Ägyptologie, Judaistik und Arabistik auch die klassische Philologie anführe. Die deutschen Vertreter dieser „strengen“ Geisteswissenschaften müssen sich jedenfalls im internationalen Vergleich nicht verstecken.

International anerkannt, hierzulande oft im Schatten der Naturwissenschaften. Brauchen die Geisteswissenschaften in Deutschland mehr Publicity?

Ich denke, eine stärkere geisteswissenschaftliche Präsenz in der Öffentlichkeit täte nicht nur unsereinem, sondern vor allem der Gesellschaft gut. Das sage ich, weil heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist, wie Wissenschaft eigentlich funktioniert. Alle Wissenschaft kann auf längere Sicht nur als eine allein an der Sache orientierte, methodisch kontrollierte Wahrheitsforschung im Sinne Max Webers produktiv sein. Wir sollten das Jahr der Geisteswissenschaften nutzen, um diesen Grundgedanken stärker im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. Das Schielen auf Nebeneffekte, etwa die volkswirtschaftliche und ideologische Verwertbarkeit der Studien oder selbstzweckhafte Kennziffern wie produzierte Studienabschlüsse oder Drittmittelakkumulation, nimmt gegenwärtig zuviel Raum ein. Ganz zu schweigen von der verzerrenden Darstellung wissenschaftlicher Themen in den Feuilletons oder auf der Mattscheibe.

Wie wollen Sie für die Sache der Wissenschaft werben, ohne die Feuilletons oder die Mattscheibe zu nutzen?

Das Problem sind nicht die genannten Massenmedien an sich. Nur darf man sich in Sachen der Wissenschaft den Lesern bzw. Zuschauern weder andienen noch ihnen ein Hokuspokus vormachen; man soll sie auf verständliche Art und Weise fordern. Dabei sollen nicht die Forscher, sondern die Gegenstände der Wissenschaft im Mittelpunkt stehen: Wenn man ein paar mehr Menschen dazu bringen könnte, ihre kurze Lebenszeit, soweit sie nicht Arbeitszeit ist, nicht im Zustand passiver Zerstreuung zu vergeuden, und stattdessen Geige zu spielen und Kammermusik-Hören zu trainieren, Montaigne und Proust auf Französisch, Shakespeare und Joyce auf Englisch zu lesen, oder die Argumente von Platon und Aristoteles, Kant und Hegel, Wittgenstein und Heidegger zu rekonstruieren – dann hätten die Geisteswissenschaften einen Beitrag dazu geleistet, an die Stelle der hohlen Phrase von der Wissensgesellschaft eine Realität zu setzen. Wissenschaftler hingegen, die für sich selbst die Reklametrommel rühren, machen sich und ihre Sache lächerlich.

Die Geisteswissenschaften als Opfer der Geltungssucht einiger Kollegen?

Nein, paradoxerweise sind die Hauptopfer der verzerrten Wahrnehmung von Wissenschaft in Politik und Öffentlichkeit die Naturwissenschaften: Diese sind in ihrem mittel- und langfristigen Bestand dadurch bedroht, dass ihre gesellschaftliche Wahrnehmung und Förderung auf den – gewiss unentbehrlichen – Bereich der anwendungsorientierten Auftragsforschung verkürzt wird. Zentrale naturwissenschaftliche Disziplinen, die man zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht diesem Bereich zurechnet, werden in der kurzsichtigsten Weise ausgehungert. So sind an den deutschen Universitäten die Lehrstühle für Relativitätstheorie – Einstein-Jahr hin oder her – inzwischen nahezu restlos zugunsten lukrativer scheinender Teildisziplinen geopfert worden. Was aber den Baum der Wissenschaft auf lange Sicht in Saft und Kraft hält, sind die Wurzeln der Grundlagenforschung. Allein die Mathematik und die Geisteswissenschaften haben heute wohl die Chance, die Gesellschaft an diese Wahrheit zu erinnern.

Wie meinen Sie das?

Nun, bei der Mathematik und den Geisteswissenschaften spielt unbeschadet der wichtigen Dienstleistungsfunktion, die sie in der Lehrerbildung wahrnehmen, das Verwertbarkeitskriterium in der Forschung eine marginale Rolle. Das gibt diesen Disziplinen die Chance, den Gedanken des freien und unabhängigen Forschens stellvertretend für die Wissenschaft insgesamt glaubwürdig zu vertreten.

Kommen die Geisteswissenschaften dieser Aufgabe zur Genüge nach?

Nein, dass tun sie noch nicht, es fehlt noch an der nötigen Kompromisslosigkeit. Gerade im Jahr der Geisteswissenschaften sollten deren Vertreter das Eindringen sachfremde Gesichtspunkte in den gesellschaftlichen Diskurs über Wissenschaft furchtlos und auf möglichst öffentlichkeitswirksame Weise brandmarken und zurückweisen.

Würden Sie sagen, dass der Publizist Gustav Seibt Mut beweist, wenn er behauptet, dass Weltfremdheit auch ein Stück Freiheit ist?

Ich verstehe nicht, wo sonst als in der Welt das wissenschaftliche Denken seine Gegenstände finden soll. Deshalb erscheint mir, unbeschadet der Möglichkeit zu mystischer Versenkung, jedenfalls im Bereich der Wissenschaft ein weltfremdes Denken keineswegs erstrebenswert. Wenn man unter Welt allerdings die brave new world der so genannten Kulturindustrie versteht, dann ist Denken gar nicht anders möglich als im Modus der Weltfremdheit. Dann ist Weltfremdheit sogar lebensnotwendige Voraussetzung dafür, um überhaupt das Denken zu beginnen.

Was müsste geschehen, um diesem Denken in Deutschland bessere Entfaltungsmöglichkeiten zu verschaffen?

Wir müssen vor allem das Leistungsprinzip innerhalb des Wissenschaftssystems wieder ausschließlich an den Erkenntnisfortschritt binden und alle anderen Maßstäbe außer Kraft setzen. Nur das an der Sache orientierte Leistungsvermögen eines Forschers und Lehrers darf über seinen Erfolg oder Misserfolg entscheiden. Allein dieses Kriterium ist auch geeignet, den Wettbewerb zwischen den Universitäten zu prägen. Wenn wir den sachlichen Ertrag von Forschung und Lehre nicht zum allein gültigen Maßstab erheben, werden wir weiterhin in jener Mittelmäßigkeit verharren, die diverse Studien aus den letzten Jahren unserem Bildungssystem bescheinigen.


Springen Sie direkt: zur Hauptnavigation zum Seitenanfang