Das „enthemmte“ Gehirn

 

Die Abbildung zeigt das fMRT-Signal im somatosensorischen Kortex eines CRPS-Patienten verglichen mit einem gesunden Probanden. Während das Signal auf der betroffenen Seite verringert ist, zeigt das Diagramm bei CRPS-Patienten eine Disinhibition der Doppelp Ruhr-Universität Bochum

Das komplexe regionale Schmerzsyndrom (CRPS), auch als Morbus Sudeck bekannt, ist durch eine „Enthemmung“ mehrerer sensorischer und motorischer Hirnareale gekennzeichnet. Eine fachübergreifende Bochumer Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Martin Tegenthoff (Neurologische Klinik Bergmannsheil) und Prof. Dr. Christoph Maier (Schmerzambulanz Bergmannsheil) konnte jetzt erstmals nachweisen, dass bei einer einseitigen CRPS-Symptomatik – zum Beispiel an der linken Hand – die Erregbarkeit nicht nur in dem Hirnareal erhöht ist, das für die Verarbeitung des Tastsinns der betroffenen Hand zuständig ist. Auch das Hirnareal der gesunden Hand ist gleichzeitig „enthemmt“.

Das komplexe regionale Schmerzsyndrom (CRPS), auch als Morbus Sudeck bekannt, ist durch eine „Enthemmung“ mehrerer sensorischer und motorischer Hirnareale gekennzeichnet. Eine fachübergreifende Bochumer Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Martin Tegenthoff (Neurologische Klinik Bergmannsheil) und Prof. Dr. Christoph Maier (Schmerzambulanz Bergmannsheil) konnte jetzt erstmals nachweisen, dass bei einer einseitigen CRPS-Symptomatik – zum Beispiel an der linken Hand – die Erregbarkeit nicht nur in dem Hirnareal erhöht ist, das für die Verarbeitung des Tastsinns der betroffenen Hand zuständig ist. Auch das Hirnareal der gesunden Hand ist gleichzeitig „enthemmt“. Die Arbeitsgruppe beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit der Erforschung und Behandlung des CRPS. Im renommierten Fachjournal „Neurology“ berichten die Forscher über Ihre neuen Erkenntnisse. Die wissenschaftliche Studie wurde finanziell vom Forschungsfonds der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) gefördert.

Möglich: eine Veranlagung für CRPS

CRPS kann sich nach anfangs häufig nur leichten Verletzungen entwickeln und zu langdauernden starken Schmerzen, Gefühls- und Bewegungsstörungen, sowie Haut- und Knochenveränderungen in der betroffenen Extremität führen – in manchen Fällen bis hin zur dauerhaften Arbeitsunfähigkeit. Die genaue Ursache des Krankheitsbildes ist nicht bekannt. Neben Entzündungserscheinungen bewirken offensichtlich auch Veränderungen im Gehirn, dass die Krankheit chronisch wird. „Obwohl die Symptome zumeist auf eine Körperseite begrenzt sind, scheinen einige Veränderungen im Gehirn beidseitig vorhanden zu sein, was auf eine mögliche individuelle Anlage für die Entwicklung eines CRPS hinweisen könnte“, sagt Prof. Martin Tegenthoff.

Fehlprogrammierung im Gehirn


Die Genese dieser Krankheit ist weitgehend unklar. Unter Schmerzforschern gelten neben dem Einfluss von Entzündungsfaktoren Veränderungen im zentralen Nervensystem als mögliche Ursache. So fanden Forscher in zahlreichen Studien beispielsweise heraus, dass die Repräsentation der betroffenen Hand auf der „Körperlandkarte“ im Gehirn verkleinert ist, was mit der Schmerzintensität und der Tastleistung der Patienten eng zusammenhängt.

Erregbarkeit auf beiden Seiten verändert

In einer vorangegangenen Studie hat die Bochumer Arbeitsgruppe im motorischen Zentralnervensystem von CRPS-Patienten eine erstaunliche Entdeckung gemacht: Die Erregbarkeit des motorischen Handareals ist erhöht – und zwar nicht nur in der Gehirnhälfte, die die betroffene Seite steuert, sondern auch in der zur gesunden Seite korrespondierenden Hälfte. Mit diesem Hinweis auf eine systemische Störung des Zentralnervensystems hat die Gruppe in der aktuellen Studie untersucht, ob die beidseitige Enthemmung auch in dem Hirnareal zu finden ist, das für den Tastsinn verantwortlich ist (somatosensorischer Kortex). Untersucht wurden CRPS-Patienten mit einseitiger Symptomatik an der Hand. Nach einer elektrischen Stimulation haben die Forscher die Hirnströme im somatosensorischen Hirnareal der betroffenen und nicht betroffenen Hand gemessen. Das Ergebnis: Die beidseitig verringerte Hemmung beim CRPS ist nicht nur auf motorische Handareale beschränkt. Auch die Bereiche des Gehirns, die die sensorische Wahrnehmung der Hände verarbeiten, zeigen eine deutliche Veränderung.

„Enthemmung“: typisch für neuropathische Schmerzen

Überprüft haben die Wissenschaftler ihre Erkenntnisse mit gesunden Kontrollpersonen und mit Patienten, die unter Schmerzen litten, die im Gegensatz zum CRPS nicht durch eine Erkrankung der Nerven hervorgerufen wurden (nicht-neuropathischer Schmerz). Auch hier fanden die Forscher ein verblüffendes Ergebnis: Die Kontrollpatienten zeigten keinerlei Veränderungen der Hemmung im Handareal, sie unterschieden sich nicht von den gesunden Personen. „Das zeigt, dass die Enthemmung des Gehirns bei CRPS-Patienten spezifisch für neuropathische Schmerzen zu sein scheint“, so Prof. Tegenthoff.

Systemische Veränderung wirft Fragen auf

Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die beim CRPS auftretenden Veränderungen des zentralen Nervensystems sehr viel komplexer sind, als die Wissenschaftler bisher vermutet haben. Eine beidseitige Veränderung des zentralen sensomotorischen Systems, die sich in einer einseitigen Symptomatik äußert, wirft Fragen auf – etwa ob es sich dabei um Ursache oder Wirkung der Erkrankung handelt. Eine erste Annäherung unternehmen die RUB-Wissenschaftler nun, indem sie die Studienpatienten langfristig weiter begleiten und mit einem Abstand von je einem halben Jahr zu zwei Nachmessungen einladen. Dadurch können sie die Veränderungen im Gehirn mit dem Heilungsverlauf vergleichen. Ein Rückgang der Veränderungen bei erfolgreicher Therapie ließe darauf schließen, dass es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um eine Krankheitsfolge handelt.

Das Gehirn mit einbeziehen

„Unsere Forschungsergebnisse verdeutlichen, dass beim CRPS Veränderungen im Gehirn eine große Rolle spielen“, sagt Prof. Dr. Christoph Maier. „Wie es bereits in Pilotstudien auch in der Schmerzklinik am Bergmannsheil geschieht, sollte dieser Aspekt bei zukünftigen Therapieansätzen Berücksichtigung finden, um die Behandlung dieser weiterhin problematischen Erkrankung zu verbessern.“