Welche Rolle spielt Religion in der Stadtentwicklung?

In unserem Blogbeitrag erklären Experten, wie in Jakarta und Istanbul Wohnbezirke entstanden sind, die speziell auf muslimische Familien der Mittelschicht zugeschnitten sind. Warum eine solche religiöse Gentrifizierung in der Entwicklung deutscher Städte keine Rolle spielt - das erläutert der Soziologe Prof. Dr. Walter Siebel in seiner Replik.

Frömmigkeit und Eigentum in der Stadt – die Entwicklung religiösen Wohneigentums in Jakarta und Istanbul

Ein Beitrag von Hew Wai Weng und Ayşe Çavdar, Zentrum Moderner Orient Berlin

In Jakarta und Istanbul, zwei mehrheitlich muslimischen Megastädten der Gegenwart, spielt der Islam für den städtischen Lebensunterhalt und die kollektive Raumgestaltung eine zunehmend sichtbare Rolle. An den Rändern Istanbuls und Jakartas ist die Ausbreitung „muslimischer Wohnkomplexe“ (Jakarta) und „frommer Gated Communities“ (Istanbul) zu beobachten, die auf gläubige muslimische Mittelschichtsfamilien zugeschnitten sind. In ihren Forschungen zu vergleichbaren Entwicklungen in beiden Städten untersuchen Hew Wai Weng (zu Jakarta) und Ayşe Çavdar (zu Istanbul) die Zusammenhänge und Divergenzen zwischen islamischer Frömmigkeit und städtischem Wohneigentum. Wer sind die Akteure in der Produktion dieser religiösen Immobilienobjekte? Inwiefern und unter welchen Bedingungen spielt der Islam in einer solchen Entwicklung eine Rolle?

Über die Autoren

Ayşe Çavdar lebt in Istanbul und forscht über Religiosität, Säkularismus, Urbanismus sowie soziale Gerechtigkeit und Sicherheit. Von Februar bis März 2015 war Ayşe Çavdar Gast der Forschungsgruppe „Städte als Laboratorien des Wandels: ‘Ränder‘ der Stadt“ am Zentrum Moderner Orient in Berlin.

Hew Wai Weng ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum Moderner Orient in Berlin. Er arbeitet derzeit an einem Forschungsprojekt mit dem Titel: „Orte von Ein- und Ausgrenzung: Islam und urbane Raumgestaltung in Malaysia und Indonesien“. Er ist Teil der Forschungsgruppe „Städte als Laboratorien des Wandels: Die ‘Ränder‘ der Stadt“.

Beispiel Jakarta

Seit einigen Jahren entsteht im Umland der indonesischen Hauptstadt Jakarta eine wachsende Anzahl von Gated Communities. Manche dieser abgeschlossenen Wohnanlagen werden als „muslimische Wohnkomplexe“ (Perumahan Muslim) beworben und richten sich gezielt an gläubige muslimische Mittelschichtsfamilien.

Wie bei anderen Gated Communities soll ein sicheres und komfortables Wohnumfeld geboten werden. Doch das definierende Kriterium ist der Islam – von der Auswahl der Bewohner (ausschließlich Muslime) über die Finanzgeschäfte (Scharia-Bankwesen) und Gemeinschaftsanlagen (Moscheen) bis hin zu den Freizeitangeboten (Religionskurse) und den Vorschriften (Kopftuchgebot für Frauen).

Diese Entwicklungen können als Formen „religiöser Gentrifizierung“ betrachtet werden – wie und unter welchen Voraussetzungen fromme Muslime aus der Mittelschicht sich städtische Orte aneignen, um ihre religiösen Bedürfnisse zu erfüllen und sich in ihren Identitäten zu bestärken.

Umgekehrt eignen sie sich auch ihre Religion neu an, um weltliche Bedürfnisse zu erfüllen und einen Mittelschichtslebensstil zu pflegen, also eine Form von „Gentrifizierung von Religion“. Für viele von ihnen ist der Islam nicht nur religiöser Glaube, sondern auch ein Identitätsmarker und eine Form von politischer Ideologie und urbanem Lebensstil.

Ein Werbeplakat für eine muslimische gated community
Ein Werbeplakat für eine muslimische Gated Community © Hew Wai Weng

Beispiel Istanbul

Ein Beispiel für die „religiöse Gentrifizierung“ und die „Gentrifizierung von Religion“ findet sich auch in Istanbul. Mit der Kandidatur zum Amt des Oberbürgermeisters von Istanbul startete der heutige türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan 1994 seine politische Laufbahn. Gleichzeitig initiierte er sein erstes Projekt im sozialen Wohnungsbau. Der Name: Başak Konutları.

In den nächsten Jahren, parallel zu Erdogans politischem Aufstieg, veränderte Başak Konutları seinen Charakter: Aus einem sozialen Wohnungsbauprojekt wurde ein geschlossener Wohnbezirk für einen gehobenen Mittelstand und Başak Konutları umbenannt in Başakşehir.

Für Teile der säkularen Öffentlichkeit entwickelte sich Başakşehir zum Inbegriff für ein „muslimisches Ghetto“. Islamistische Tendenzen in der Politik nahmen zu. Das Stigma „Ghetto“ funktionierte wie ein Marketing-Instrument, das die Aufmerksamkeit der aufstrebenden Mittelschicht erregte. Es wurde damit zu einer Ursache religiöser Gentrifizierung.

Der Zuzug religiöser Familien nach Başakşehir erfolgte mehrheitlich aus drei Gründen, die drei verschiedene Linien urbaner Abgrenzung illustrieren:

  1. Abgrenzung von Armut (Angst vor Kriminalität),
  2. Abgrenzung von einem weltlichen Lebensstil (Streben nach moralischer Integrität) und
  3. Abgrenzung von traditioneller Religiosität, die sie in Armut und säkulare Unterdrückungsverhältnisse zwingt (Angst vor kritischer Verurteilung).

Die religiösen Eliten in Başakşehir begründen diese Ausgrenzungslinien mit einem spezifischen Diskurs: Muslime sollten den besten Lebensstil pflegen, um aller Welt zu zeigen, wie Gott seine Anhänger belohne.

„Kinay Basaksehir“ im Stadtteil „Başakşehir“
Panoramaaufnahme von Başakşehir, einem religiösen Viertel in Istanbul © Kinay Olcaytu

Religiöse Gentrifizierung in Deutschland?

Eine Antwort von Prof. Dr. Walter Siebel, Universität Oldenburg

Im Zuge von Gentrifizierung werden in Städten die gebaute Substanz, die Infrastrukturen und das Wohnumfeld eines Stadtteils verbessert, die Wohnungspreise steigen, die Sozialstruktur des Quartiers ändert sich. Es ändert sich auch das kulturelle Milieu (Siebel 2015, 222ff): Die Architektur, die Auslagen der Geschäfte, die Kneipen, die Kleidung und das Verhalten der Bewohner signalisieren einen anderen Lebensstil. Religion spielt dabei in Deutschland keine Rolle. Die deutsche Gesellschaft ist weitgehend säkularisiert, und die Zuwanderer, sofern sie überhaupt einen religiös bestimmten Alltag leben, verfügen bisher nicht über die Mittel, um als Träger von Gentrifizierung in Erscheinung zu treten. „Religiöse Gentrifizierung“ wie im Falle Istanbuls gibt es – bislang – nicht in Deutschland.

Über den Autor

Prof. Dr. Walter Siebel ist Universitätsprofessor für Soziologie mit Schwerpunkt Stadt- und Regionalforschung an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Regional- und Stadtforschung, Wohnsoziologie, Zusammenhänge von sozialem und räumlichem Wandel sowie Integrationsfragen.

Im Fall Jakarta handelt es sich um Suburbanisierung. Ihr Träger sind dort wie hier die Mittelschichten. Aber Religion spielt bei der Suburbanisierung in Deutschland keine Rolle, und zwar aus den gleichen Gründen wie im Falle der Gentrifizierung. Auch gibt es in Deutschland fast keine Beispiele für „gated communities“, also durch Zäune, Mauern oder andere physische Barrieren, technische Überwachungssysteme und Sicherheitsdienste abgeschottete Wohnanlagen. Erst seit jüngster Zeit entstehen einige Wohnhochhäuser, die wie „gated communities“ gegen ihre Umwelt abgeschirmt sind. Die soziale Ungleichheit ist hier weniger sichtbar und die Kriminalität nicht so hoch wie in den Städten vieler Entwicklungsländer. Deshalb ist in Deutschland das Gefühl des Bedrohtseins bei den Mittel- und Oberschichten nicht so ausgeprägt, dass die eigene Lebenssituation mit solchen Maßnahmen abgesichert werden müsste. Es reichen räumliche Distanzierungen, Preismechanismen und symbolische Abgrenzungen.

Allerdings blendet der Fokus auf räumliche Segregation die effektivsten Formen gegenseitiger Abschottung aus, die über Mobilität vermittelte Segregation von Lebenswelten: Wohlhabende Haushalte organisieren ihren Alltag regional verteilt auf die Standorte der internationalen Schule, der 1A-Einkaufslagen, der hochqualifizierten Arbeitsplätze und teuren Freizeitangebote. Man kann nebeneinander wohnen und hat doch nichts miteinander zu tun.

Weiterführende Literatur Siebel, Walter 2015: Die Kultur der Stadt. Berlin: edition suhrkamp.

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