Von der Arbeits- zur Lernwelt

Ein Expertinnenbeitrag der Trendforscherin Birgit Gebhardt

Humane Arbeit wird Lernen sein: kommunikativ, interaktiv, experimentell und kreativ. Das spricht für neue Lehrkonzepte, neue Arbeitsweisen, neue Schulen und neue Büros. Und tatsächlich übt man sich dort in neuen Kreativmethoden und an digitalen Werkzeugen. Allein, unser Lernen wird sich nicht auf Ausbildung und Arbeit beschränken. Im Gegenteil. Wenn Schule und Büro nicht aufholen, lernen wir im Alltag viel schneller, vernetzter und individueller als in den professionellen Institutionen.

Wir wissen heute schon recht gut wie Menschen lernen, wie sich Potenziale entfalten lassen und wie Lernen Spaß macht. Die Schlagworte zum Erwecken des Forschergeistes lauten: Multiperspektive, Anwendungsbezug, persönliche Relevanz und transdisziplinäre Inspiration. Man hört sie derzeit in Schule und Büro, doch wollten sich die Institutionen wirklich als die Lernwelten per se verstehen, dürfte man mehr erwarten. Bald schon könnte unsere tägliche Kommunikation mit Menschen wie Maschinen permanentes Lernen bedeuten. Dank globaler Vernetzung und interaktiver Medien ist es möglich, jenseits von Schule und Büro Wissen weltumspannend auszutauschen, Details zu spezifizieren, Erkenntnisse zu gewinnen, eigene Erfahrungen zu machen, Vorstellungen zu visualisieren und Szenarien durchzuspielen.

Birgit Gebhardt ist Trendforscherin mit Schwerpunkt „Zukunft der Arbeitswelt“. Die ehemalige Geschäftsführerin des Hamburger Trendbüros führt Entwicklungen zu plausiblen Vorstellungen von Zukunft zusammen und erforscht seit 2012 neue Modelle des vernetzten Wirtschaftens und Arbeitens . Sie war von 2012-2015 Mitglied der Expertenkommission der Bertelsmann-Stiftung und ist Mitglied des „New Work“-Ideenlabors von XING und im wissenschaftlichen Beirat der Liechtensteinischen Stiftung Zukunft.li.

Wie wollen Schule und Büro dann ihren professionellen Vorsprung als Aus- und Weiterbildungsort manifestieren? Fast scheint es, als drohe dem Lernen das gleiche Schicksal wie der Arbeit: Je länger wir es in branchenspezifischen, hierarchisch organisierten, prozessorientierten Standards der Industrielogik verankern, umso mehr behindern wir den freien Geist für synergetische Vernetzung, agile Selbstorganisation und intrinsische Motivation.

Viel besser scheinen die Konsum-, Entertainment- und Freizeitindustrien zu verstehen, wie sie für ihre Inhalte begeisterte Beteiligung erzeugen: Multisensuelle Erfahrungen finden sich im Ausstellungsdesign, spannende Interaktionen gestaltet die Gaming-Branche und personalisierte Erlebniswelten begegnen uns im Online-Shopping. Anwendungsbezug erleben wir unter der Virtual-Reality-Brille, Kreativität und Storytelling hingegen entspinnen sich auf YouTube. Aus Kommunikation wurde hier längst Inspiration und Interaktion. Und damit wären wir genau beim Lernen. Denn auch die Lernformate wandeln sich in vernetze, spielerische Erfahrungen. „Blended Learning“ sprengt institutionelle Bildungsgrenzen, bedient sich erweiterter Realitäten, verschmilzt mit Gaming und Entertainment und steht 24/7 zur Verfügung.

Es verwundert nicht, dass die vernetzte Wissensgesellschaft nach neuen Lernerfahrungen sucht, die nicht an schulischen Frontalunterricht erinnern, wie wir ihn leider vielfach immer noch vorfinden. Dabei hat auch der physische Lernort direkte Auswirkung, da – so die wissenschaftliche Erkenntnis – Menschen bei wichtigen Lernerfahrungen immer den Ort miterinnern, an dem sie eine wichtige Erkenntnis gewannen. In Seminarräumen, die die Teilnehmenden an ihren früheren Klassenraum erinnern, fallen diese unbewusst in ihr schulisches Verhalten zurück, sind wieder Klassenkasper oder kurz vorm Einnicken. So sehr die Lernorte uns also prägen, so vielseitiger, berührender und wertschätzender sollten wir Lernerfahrungen gestalten.

Bemerkenswert ist, dass die neuen Lernorte in Schule und Büro sich der typischen Struktur, Hierarchie, dem Raumprogramm und der Gleichförmigkeit entziehen, die der lange für professionell geltenden Arbeitsstätten charakteristisch waren. Neu Schul- und Bürogebäude reagieren mit mehr Raum für Austausch und Interaktion. Großzügige Atrien, Galerien und sogar Spazierwege fördern die informelle Begegnung und übertragen die Vielfalt öffentlicher Begegnungsflächen aus der Stadtplanung in die Organisation. Tischreihen monotoner Bildschirmarbeitsplätze und uniforme Meetingräume differenzieren sich aus in Gemeinschaftsflächen mit Café, Kreativworkshop- und Teamräumen bis hin zu ruhigeren Konzentrationszonen. Diese neue Vielfalt entspricht nicht nur der angestrebten agilen und transdiziplinären Zusammenarbeit. Sie entspricht auch den zukunftsweisenden pädagogischen Ansätzen, die Kinder zur Selbstorganisation und gegenseitigem Lernen bewegen und ihnen dazu vielfältige Lernmethoden und -formate vermitteln.

Allein das digitale Potenzial bleibt vielfach noch nicht ausgeschöpft. Bisher findet sich in deutschen Schulen oder Büros wenig von der individuell adaptiven Ausrichtung oder der sinnlich-berührenden Lernerfahrung. Inwieweit analog-digitale Wechselwirkungen Forschergeist wecken, intensive Lernerlebnisse erzeugen und damit ihre Aufenthaltsqualität und Relevanz steigern konnten, können interessanterweise die klassisch-kulturellen Lernorte, wie Museen und Bibliotheken bezeugen. So setzt das Wissenschafts-Center „Experimentarium“, nördlich von Kopenhagen, voll auf die Interaktion mit den Besuchenden, in Århus treffen sich Studierende zum Lernen lieber auf den Galerien und Terrassen im Kulturzentrum Dokk1 als in ihrer Universität und in Birmingham ist der Neubau der Bibliothek ein urbaner Magnet für Bürgerinnen und Bürger jeden Alters und jeder Herkunft. Nichts anders möchten Schulen und müssten Arbeitsstätten doch auch mit ihren Angeboten erzielen.

Die hier veröffentlichten Inhalte und Meinungen der Autorinnen und Autoren entsprechen nicht notwendigerweise der Meinung des Wissenschaftsjahres 2018 – Arbeitswelten der Zukunft.