Das Potential von Virtual Reality (VR) und KI bei der Alzheimer-Früherkennung

Ein Expertinnenbeitrag von Nadine Diersch, Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen

Wer kennt das nicht? Plötzlich blockiert eine Baustelle den vertrauten Weg ins Büro oder wir müssen uns in einer unbekannten Stadt zurechtfinden. Woran liegt es, dass manche Menschen in derartigen Situationen wenig Probleme haben, sich (neu) zu orientieren, während andere damit überfordert sind? Letzteres ist vor allem bei älteren Menschen häufig der Fall. Doch ab wann sind gewisse Orientierungsschwierigkeiten nicht mehr Ausdruck eines gesunden Alterungsprozesses, sondern deuten auf krankhafte Veränderungen im Gehirn hin, wie z. B. eine beginnende Alzheimer-Demenz?

Genau diesen Fragen gehen wir in unserer Forschung am Deutschen Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) nach. Denn nach wie vor werden Demenzerkrankungen viel zu spät erkannt, was wiederum die Entwicklung von erfolgreichen Behandlungsmethoden erschwert. Nur wenn wir die Mechanismen des Alterungsprozesses im Gehirn besser verstehen und erste Anzeichen für Alzheimer frühzeitig erkennen, werden wir zukünftig Therapien entwickeln können, die ein selbstbestimmtes Leben im Alter fördern.

Aus der Tierforschung wissen wir, dass sogenannte „Orts- und Gitterzellen“ im Gehirn für unsere räumliche Orientierung verantwortlich sind. Sie befinden sich im Hippocampus bzw. im benachbarten entorhinalen Cortex und zeigen immer dann Aktivität, wenn sich das Tier an bestimmten Positionen im Raum aufhält. Außerdem wissen wir, dass erste molekulare Veränderungen bei Alzheimer, in Form von Proteinablagerungen, im entorhinalen Cortex auftreten. Das geschieht bereits viele Jahre bevor sich Auffälligkeiten in einem Gedächtnistest zeigen. Einen standardisierten Test für die räumliche Orientierungsfähigkeit gibt es allerdings noch nicht. Hier können uns moderne Technologien wie virtuelle Realität (VR) den entscheidenden Schritt voranbringen.

Nadine Diersch

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen in Magdeburg. Unter Anwendung von VR, Bayesian computational modeling und bildgebender Verfahren (fMRT) untersucht sie altersbedingte Veränderungen beim Erlernen räumlicher Umgebungen. Zuvor forschte sie an der Bangor University (UK) über altersbedingte Veränderungen bei der Wahrnehmung von motorischen Bewegungen, nachdem sie sich bereits während ihrer Doktorarbeit am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig mit diesem Thema beschäftige.

Twitter: @nadine_diersch

VR erlaubt uns, die räumliche Orientierungsfähigkeit unter sehr realistischen Bedingungen zu testen. Unsere Probanden erleben digital entwickelte Umwelten in 3D, bewegen sich entweder mit ihrem Körper darin oder liegen im MRT Scanner und bewegen sich virtuell, während wir ihre Gehirnaktivität aufzeichnen. Auf diesem Weg konnte beispielsweise am DZNE gezeigt werden, dass die neuronale Repräsentation der Gitterzellen im entorhinalen Cortex bei älteren Menschen reduziert ist. Dies wiederum steht im Zusammenhang mit Problemen bei Wahrnehmung der eigenen Position im Raum. Außerdem fanden wir heraus, dass altersbedingte Schwierigkeiten beim Lernen von neuen Umgebungen mit einer verstärkten Aktivität im Hippocampus einhergehen. Mit Hilfe einer Smartphone-App zum Thema Navigation stellte sich zudem kürzlich heraus, dass Probanden mit einer genetischen Veranlagung für Alzheimer veränderte Bewegungsmuster beim Navigieren in einer virtuellen Umwelt zeigen.

Durch den Einsatz digitaler Technologien wird die Menge an Daten mit gesundheitsrelevanten Informationen über eine Person immer größer. Diese Daten sinnvoll zu interpretieren und Anzeichen von Alzheimer zuverlässig zu erkennen, ist aufgrund der Vielfältigkeit der Krankheitsverläufe eine schwierige Aufgabe. Genau hierbei zeigen KI bzw. Techniken Maschinellen Lernens und der Mustererkennung ihre nützliche Stärke. Basierend auf den Daten zur Orientierungsfähigkeit und Gehirnalterung von Gesunden und bereits betroffenen Patientinnen und Patienten, können Algorithmen entwickelt werden, welche den typischen Krankheitsverlauf in Form eines statistischen Modells erlernen. Mit Hilfe des Modells kann dann vorhergesagt werden, wie wahrscheinlich es ist, dass die Patientin oder der Patient Alzheimer hat.

Die Vorhersage des Modells könnte z.B. für einen Neurologen als zusätzliche Informationsgrundlage bei der Diagnosestellung sehr nützlich sein, um eine Aussage über den Status der Patientin oder des Patienten zu treffen. Der Vorteil eines solchen Ansatzes ist nicht nur, dass das Modell auf sachlichen Daten basiert, sondern auch auf einer Menge von Beobachtungen, die umfassender als jahrelang gesammelte praktische Erfahrung sein können. Die Digitalisierung erlaubt somit eine computergestützte Diagnostik, die das Potential hat, den klinischen Alltag in naher Zukunft grundlegend zu verändern.

 

Die hier veröffentlichten Inhalte und Meinungen der Autorinnen und Autoren entsprechen nicht notwendigerweise der Meinung des Wissenschaftsjahres 2019 – Künstliche Intelligenz.​

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