„Das große Ziel? Eine Geduld für das Unvollkommene entwickeln.“

 

Christine Ehrlich ist Diplom-Musiktherapeutin an der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Charité Berlin. Im Interview mit www.forschung-fuer-unsere-gesundheit.de schildert sie die Methoden und Ziele ihrer Arbeit.

Frau Ehrlich, welche Kinder kommen zu Ihnen in die Musiktherapie?

Christine Ehrlich: Wir behandeln hier in der Klinik das gesamte Spektrum der psychiatrischen Erkrankungen des Kindes- und Jugendalters. Viele der Kinder und Jugendlichen leiden an Störungen des Sozialverhaltens, ADHS, affektiven Störungen, auch an sozialen Phobien, und Angst- oder Zwangserkrankungen. Die Indikationen für die Musiktherapie ergeben sich weniger aus den Störungsbildern der Patienten, sondern eher aus der Frage, ob sie durch das gemeinsame musikalische Improvisationsspiel anreg- und berührbar sind. Das Alter meiner Patienten reicht dabei von 5 bis 17 Jahren.

Wo liegen die Unterschiede bei einer Musiktherapie mit Kindern im Gegensatz zu Erwachsenen?

Christine Ehrlich: Kinder haben einen stärker imitatorischen Zugang zu Musik. Das heißt, sie versuchen das, was sie kennen, zu reproduzieren. Interessant wird es, wenn sie in Not kommen, weil der musikalische Laie nie so imitieren kann, dass es vollkommen ist. Aus dieser Not heraus kann so etwas wie eigensinnige Produktivität entstehen. Darin besteht für mich das therapeutische Potenzial des Zusammenspiels.

Was bedeutet das?

Christine Ehrlich: Die gemeinsame musikalische Improvisation  bietet für den Patienten die Möglichkeit einer Begegnung mit sich selbst in Begleitung des Therapeuten. Ich lasse die Kinder dabei die vielfältigen Instrumente erkunden. Also das Instrument ist im Grunde schon ein Gegenüber für das Kind, mit dem es sich auseinandersetzen muss. An der Art, wie es sich ihm nähert, kann ich sehr viel verstehen über die Art, wie es mit der Aneignung von Welt umgeht. Und dann komme ich als Mitspielerin noch dazu. Ich bringe durch meine musikalischen Interventionen Störungen und Anregungen in die teils pathologischen Ordnungen, die das Kind herstellt, hinein und schaue, wo es Elastizitäten in seinem Spiel gibt und worin das Kind mit echter Emotionalität, ja sogar in neuer Stimmigkeit des Zusammenspiels aufgeht.

Kinder drücken ihr Erleben eher im Handeln als in Worten aus. Ist Musiktherapie deshalb ein besonders probates Mittel der Therapie?

Christine Ehrlich: Ja, das Handeln ist ein Ausdrucksphänomen in der Musiktherapie. Aber das, was das Kind intendiert, ist nicht unbedingt das, was in seinem Spiel zum Ausdruck kommt. Dass die Bedeutungsträger wie auch die gesagten Sätze einen Sinnzusammenhang zu der unbewussten Psychodynamik aufweisen, ist auch in der Kindertherapie ein Konsens. Das ist etwas, was man in der Musik ebenso wie in der Sprache mit Erfahrung lesen und interpretieren muss. Die meisten Kinder spüren sehr schnell, dass es weniger auf das Was, sondern auf das Wie ankommt: nämlich, wie sie sich auf das Fremde, Provisorische der Improvisation und die Klangwelten der Instrumente einstellen können. Daran kann man zum Beispiel sehr gut erkennen, ob jemand ein „inneres Ohr“ hat oder stark aus der äußeren Bewegung bzw. einer modischen Hörerwartung heraus spielt.

Gibt es ein typisches Spielverhalten bei bestimmten psychischen Störungen?

Christine Ehrlich: In der Psychopathologie des Ausdrucks führt die Typisierung immer zu einem physiognomischen Denken. Das Künstlerische zeichnet sich dadurch aus, dass der Mensch mit der Hervorbringung von Werken in den künstlerischen Medien eine Unhintergehbarkeit der Individualität aufweist. Mich interessiert eher die Frage, ob Musikalität eine Begabung ist, ein Talent, das man mitbekommt, oder ob sie auch eine Sensibilität ist, die durch bestimmte Störungen deformiert werden kann, so dass jemand beispielsweise aus einem narzisstischem Defizit heraus nicht mehr in der Lage ist, jemand anderem zuzuhören und ihm seinen Willen aufdrücken muss. Nicht der Typus, sondern der Wesenszug geht in einem Menschen auf, wenn er sich beispielsweise als Zwanghafter nach der Metrik oder als hystrionischer Mensch nach der sentimentalen Harmonie orientiert. In beiden Fällen lauert Gewalt, Destruktion, was im Schlager oder im Hämmern des Techno offensichtlich ist, aber zur Potenz des musikalischen Formens durchaus dazugehört.

Wie werten Sie das Musizieren eines Patienten aus?

Christine Ehrlich: Musik ist keine Sprache. Ich übersetze die Art des Spielens nicht eins zu eins in eine Bedeutung. Aber ich versuche durch einen Nachvollzug zu verstehen, woraus sich das Spiel des Patienten speisen könnte – etwa, wenn ein Kind bei der ersten Sitzung immer nur heftig auf den Gong schlägt. Ist das ein Impulsdurchbruch? Ist es etwas, das aus einem ekstatischen Genuss an der Wiederkehr oder an der Zerstörung heraus entsteht? Oder ist es primär als Ignoranz dem Anderen gegenüber oder als Übertönen-wollen zu verstehen? Ich achte grundsätzlich auf drei Dinge: Was für ein musikalisches Phänomen wird im spontanen Spiel überhaupt hervorgebracht? Mit welcher Ausdrucksbewegung geschieht das? Also, wie behandelt das Kind das Instrument und wie formt es den Anschlag? Berührt es die Taste auf dem Klavier oder hämmert es darauf herum? Und drittens: Was kommt im Zusammenspiel in den Spielweisen der beiden – Therapeutin und Patient – jeweils zum Ausdruck? Dieses Gewebe muss ich von verschiedenen Seiten beleuchten und dann sehen, wo die therapeutischen Potenziale liegen.

Was sind die Ziele Ihrer Arbeit?

Christine Ehrlich: Es gibt einen diagnostischen Beitrag, den ich leiste und bei den Kollegen einbringe. Da Musik aus dem Verborgenen kommt, legt die so eruierbare Psychopathologie eine wertvolle Spur für das Verstehen des Patienten. Und was das Therapeutische angeht: Ein großes Ziel ist – jenseits des Nützlichkeitsdenkens, das durch die Ökonomisierung des Gesundheitswesens momentan fast allem zugrunde liegt –, dass der Patient Geduld für das Unvollkommene entwickelt. Das ist ein Relativierungsprozess, den auch jeder Erwachsene in Konfrontation mit künstlerischen Prozessen erlebt. Kinder erfahren die Spielräume des Menschlichen leichter in sinnlichem Spiel. Ein weiteres Ziel der Therapie ist, dass das Kind oder der Jugendliche erlebt, dass er durch die vertiefte Beschäftigung mit sich selbst oder mit einer Sache zu Neuem und zum Nächsten gelangen kann und dass das erhoffte Zukünftige von außen, aber gleichzeitig auch aus ihm selbst heraus kommt. Und dass er ein ihm wohlwollendes Gegenüber braucht, um werthaltige Erfahrungen mit sich selbst zu machen.

Inwiefern hilft das den Kindern und Jugendlichen im Alltag?

Christine Ehrlich: In der Hilflosigkeit holt sich der Patient nicht aus der Pragmatik Hilfe, sondern aus der Hoffnung, aus der Fähigkeit zur Sinnlichkeit und aus der Annahme seines Soseins mit Geduld. Dabei hilft das Musizieren, das eine Dauer hat und eine sinnvolle Zeit ist, enorm. Viele unserer Patienten haben Versagensängste, Schulängste etwa, sie können sich nicht öffnen für anderes und Andere und mit ihren Unbeholfenheiten produktiv auseinandersetzen. Das geht einher mit Vermeidungsverhalten, Perfektions- und Kontrollwünschen oder einer geringen Frustrationstoleranz. Deshalb finde ich es wichtig, dass die musikalische Begegnung mit den Instrumenten und der Mitspielerin auch einen gewissen Werkcharakter bekommt. Ich gebe zum Beispiel Kindern CDs mit Aufnahmen aus ihrer Therapie mit nach Hause. Es ist gut, wenn sie erleben, dass das, was sie hervorbringen, einen Wert hat. Musiktherapie, wie ich sie verstehe, hat weniger eine moralische als eine ethische Dimension. Ich gebe den Kindern kein Regelwerk für soziales Agieren mit auf den Weg. Sondern ich setze darauf, dass das Kind im Zusammensein mit mir und innerhalb des musikalischen Spiels auf seine eigenen Verhältnis- und Unverhältnismäßigkeiten stößt und aus sich heraus den Wunsch entwickelt, mehr mit dem Anderen zu denken und mehr zuzuhören. Sich selbst und dem Anderen.

Kann Musik Menschen heilen?

Christine Ehrlich: Das technische Setzen in der Heilkunst spekuliert mit Ursache und Wirkung. Dieses Denken erzeugt eine allmächtige Vorstellung vom Heilmittel und seinem Anwender. Bei den musischen Fächern  spricht man von Wirkungsästhetik. Musik ist aber immer eingebettet in einen Kontext von Personen, die sie hervorbringen. Das Medium in der Musiktherapie ist die Improvisation, nicht die Musik. Wenn Sie Freude, Trauer, Wut in einer Musik erkennen oder auch musikalisch darstellen können, dann verändert sich dadurch nicht Ihr Leben. Das, was Veränderung erzeugt, ist eher das Durchleben von Zuständen und der Prozess, sich aufeinander einzustimmen. Und dass sich mit dem Anderen etwas Wesentliches korrektiv und kompensatorisch ereignet. Dass das mit Musik sehr gut geht, liegt an der Zeitlichkeit dieses Mediums und hängt damit zusammen, dass hier das innere Hören – wir nennen es auch das „dritte Ohr“ – eine Rolle spielt. Zusammenspiel bedeutet nicht allein Synchronisation in der chronologischen Zeit. Wenn man einen gemeinsamen Takt hat, heißt das noch nicht, dass man zusammen spielt. Aber es gibt in der Therapie Augenblicke, in denen man spürt, dass etwas Wesentliches nur in diesem einen Moment entsteht: Etwas Unaustauschbares, Unvorhergesehenes, was einen anders dastehen lässt als zuvor – auch wenn man es nicht immer sprachlich fassen kann. Das ist ein Potenzial des Musizierens, darauf beruht die Musiktherapie als Heilverfahren.

 

Weitere Informationen:

Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Charité Berlin

 

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