Eine Expedition – Neue Formate führen die Soziokultur in die Zukunft

Mit dem Symposium „Kann Spuren von Kunst enthalten – Expedition zur künstlerischen Erforschung der Zukunft von Soziokultur, Urbanität und Zivilgesellschaft“ starteten drei Landesverbände am 25. und 26. November in Hannover ihr Forschungsprojekt „Weiterdenken. Soziokultur 2030“. Dabei waren im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Kunst vielseitige neue Formate zu erleben, in denen sich kreative Teilhabe, politische Bildung und wissenschaftliche Herangehensweisen zu an- und aufregenden Aktionen verbinden.

© Ahmad Mohammadi, ximpix

Ein Tagungsbericht von Karen Roske

Vogelzwitschern empfängt die Expeditionsteilnehmerinnen und –teilnehmer im Basiscamp, dazu füllen Diaprojektionen von fernen Landschaften die Wand. Auf duftenden Mooskissen klettern winzige Spielzeug-Wanderer herum. Und eine leibhaftige Expeditionsleiterin mit Pudelmütze, Skibrille und Schneeschuhen schickt die rund 90 Abenteuerlustigen per Megaphon auf die Reise. So startet im Foyer des hannoverschen Kulturzentrums Pavillon das Symposium „Kann Spuren von Kunst enthalten – Expedition zur künstlerischen Erforschung der Zukunft von Soziokultur, Urbanität und Zivilgesellschaft“. Im Rahmen des Forschungsprojekts „Weiterdenken. Soziokultur 2030“ zeigen hier an zwei Tagen 14 Künstlerinnen und Künstler ihre Projektideen zur künstlerischen Erforschung der Zukunft der Soziokultur. In einer bundesweiten Ausschreibung wurden sie aus 140 Bewerbungen ausgewählt. Veranstalter sind die drei Landesverbände LAG Soziokultur Niedersachsen, LAG Soziokultur Thüringen und LAKS Baden-Württemberg in Zusammenarbeit mit dem Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft. Ihr groß angelegtes Forschungsprojekt „Kann Spuren von Kunst enthalten!“ ist ein Beitrag der Soziokultur zum Wissenschaftsjahr Zukunftsstadt. Wenn sich in der städtischen Kultur wie im Brennglas die zukünftigen gesellschaftlichen Herausforderungen zeigen – wie kann ein fähiges Kulturmanagement dann zu einer nachhaltigen Stadtentwicklung beitragen? Fünf der nominierten Ideen sollen auf dem Symposium ausgewählt werden, um gefördert und umgesetzt zu werden. Zudem geht es um den Dialog zwischen Kunst und Wissenschaft: Vier Vorträge von Experten geben Einblicke in den aktuellen Stand der künstlerischen Forschung, der demografischen Entwicklung, der technologisch nachhaltigen Stadtentwicklung und der Kulturpolitik. „Und genau wie Reisende in fremden Ländern lernen wir hier auch am Wegesrand aus glücklichen Zufällen und ungeplanten Zusammentreffen“, betont Moderator Axel Watzke, der so charmant wie konzentriert durch die Expedition berlinert. Das erleben die Gäste umgehend im Gefolge ihrer Expeditionsleiterin, die sie für jeden Beitrag in einen anderen Raum geleitet, zu immer neuen Perspektiven und Sitznachbarinnen und Sitznachbarn.

© Ahmad Mohammadi, ximpix

Inszenierter Aufstand und Irritation im Alltag Das Symposium thematisiert und weckt durch sein Format als Expedition die Lust auf Entdeckungen. So lenkt es das Augenmerk auch auf die kreativen Formate in den präsentierten Projektideen. Die Bandbreite zeigt sich in den fünf ausgewählten Vorhaben: Thomas Georg Blank, Kulturvermittler und Kunststudent, präsentiert mit „Karlsruhe – eine Stadt probt den Ernstfall“ eine offene Spielsituation, in der sich politische Bildung, Imagination und künstlerische Aktion verbinden. Der Clou ist ein „faktischer Shift“ zwischen Realität und Fiktion: In einem offiziell wirkenden Brief an Bürgerinnen und Bürger behauptet er, dass unter Karlsruhe demnächst Erdöl gefördert würde – wie es im nahen Speyer tatsächlich geschieht. Einem „Rückbau der Wohnbebauung“ solle das einzigartige Zukunftsprojekt „urban oiling“ folgen, das als gesellschaftliche Vision beworben wird, vergleichbar mit dem beliebten „urban gardening“. Mit den aufgebrachten Nachbarn gründet der Künstler eine Bürgerinitiative, die sich auf die Suche macht nach dem verloren geglaubten Willen der badischen Revolution von 1848. Er will über Eigentum und Macht diskutieren, Alternativen erdenken und erlebbar machen. Das Projekt gipfelt in künstlerischen Protestaktionen, Lesungen, Bürgertreffen und Filmwochen. Die Agentur für Weltverbesserungspläne dagegen schickt einen pinkfarbenen Bauwagen als „Wortfindungsamt“ auf zentrale Plätze in Stadt und Land. Darin sitzt eine freundliche Kunstbeamtin am Schreibtisch und nimmt zu öffentlichen Sprechzeiten von Menschen jeden Alters und jeglicher Herkunft deren liebstes Wort entgegen – gern auch ein erfundenes. Auf ein Schild gedruckt holt man sein Wort anderntags wieder ab und bringt es an einem selbst gewählten Wortort an. Diese Inszenierungen des öffentlichen Raums verändern die Alltagswahrnehmung, zudem füllen Fotos davon ein digitales Archiv. „Es geht um die sinnliche Erforschung des Themas ‚meine Heimat, mein Glück, meine Zukunft‘“, sagen die drei Veranstalterinnen, die bildende Künstlerin Sigrid Sandmann aus Hamburg, die Regisseurin Ulrike Willberg aus Hannover und die Theaterwissenschaftlerin Geesche Wartemann aus Hildesheim.

© Ahmad Mohammadi, ximpix

Raumzeitsprünge, mobile Werkstatt und weltumspannende Innensichten

Die Designer und Produktentwickler Philipp Eibach und Josua Putzke haben als Künstlergruppe A flower along the road eine bekritzelte Parkbank mit nach Hannover gebracht, die sonst vor ihrem Studio in Berlin steht. So veranschaulichen sie, wie ihr Projekt „Migration der Orte“ an der utopischen Idee der „kulturellen Wurmlöcher“ ansetzt, um mit künstlerischen Raumzeitsprüngen die Wechselwirkung zwischen Identität und Ort zu erforschen: In Bussen oder U-Bahnen wollen sie im öffentlichen Nahverkehr einer Stadt reale Dinge von einem anderen Ort ausstellen, die ihre Geschichte mitbringen. Zufallsbesucher treffen so auf irritierende Objekte, die sie zu einer gedanklichen Reise einladen. „Durch einen neuen Umgang mit der Gegenwart wollen wir neue Ideen von Zukunft schaffen.“

Die Real-Life-Game-Theaterkompanie machina eX aus Hildesheim geht dagegen selbst mit einer mobilen Werkstatt als „theatrum machinarium“ auf Reisen: In einem Lastwagen bietet sie Werkzeuge von Computer über Lötkolben und Strickmaschine bis 3D-Drucker, dazu geteiltes Wissen von Bau- und Reparaturanleitungen bis Verschlüsselungstechnik. In der interaktiven Verbindung von Heimwerker-, Künstler- und Hackerszene wollen Philip Steimel und Robin Krause in ihrem Feldversuch neue Möglichkeitsräume zur Selbstermächtigung erforschen.

Und schließlich rundet das weltumspannende Projekt „Tell me – Personal Stories“ die Auswahl ab. Der Tänzer und Choreograf André Jolles und die Ethnologin und Pädagogin Lucia Lehmann bieten in Europa und Afrika Workshops an, in denen die Menschen Innensichten ihrer Lebenswelt filmen: Eine Kölnerin sinniert beispielsweise in der U-Bahn über Anonymität, ein Slumbewohner aus Nairobi bekennt sich trotz der Müllberge vor seiner Haustür zu seiner Heimat. Hier wie dort werden die Videos präsentiert, Live-Performances mit Musik und Tanz erarbeitet, Dialoge angeregt. Die Initiatorinnen und Initiatoren erstellen eine digitale Bibliothek, bilden Multiplikatorinnen und Multiplikatoren aus und knüpfen nachhaltige Netzwerke.

© Ahmad Mohammadi, ximpix

Orte prägen Menschen – und Menschen prägen Orte. Dieser Grundgedanke zieht sich durch alle Beiträge auf diesem Symposium. Die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und Künstlerinnen und Künstler erforschen mit teils erprobten und teils experimentellen Mitteln, wie diese Wechselwirkung verläuft. Und die nominierten Projektideen zeigen anschaulich, wie sie erlebbar und nutzbar gemacht werden kann für eine nachhaltige Stadtentwicklung mit kreativer Bürgerbeteiligung. Die Teilnehmenden werden dabei von Konsumentinnen und Konsumenten zu Gestalterinnen und Gestalter in offenen Kulturformaten, die Begegnung und Austausch fördern. Sie nehmen ihre Umwelt aus neuen Perspektiven wahr, machen vielfältige Lebensstile sichtbar, entwerfen fantasievolle Zukunftsmusik, verändern und bereichern ihre Alltagswelt. Die freie Soziokultur bietet dafür eine bewegliche Infrastruktur und das nötige Know-how.


Metadaten zu diesem Beitrag

Schlagworte zu diesem Beitrag:

  • #Stadt
  • #Themen
  • #Hannover
  • #Berlin

Mehr zum Themenfeld:


Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!