Arbeitskräftepotenzial – größer als gedacht: Zur Überzeichnung demografischer Prognosen

Ein Expertenbeitrag von Prof. Dr. Gerd Bosbach, Hochschule Koblenz

Deutschland verliert massenhaft Erwerbstätige. Das ist eine These, die medial immer wieder aufgegriffen wird. Damit wird fortwährend bestätigt, was alle scheinbar schon länger wissen. Fachkräftemangel, niedrige Geburtenzahlen und gesellschaftliche Alterung sind Schlagworte, die als feststehende Parameter für die Zukunft nicht hinterfragt werden.

Prof. Dr. Gerd Bosbach lehrt Statistik, Mathematik und Empirie an der Hochschule Koblenz, Standort Remagen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Statistik-Missbrauch, Arbeitsmarkt- und Bevölkerungsstatistik (Demografie), Armut (im Alter) und volkswirtschaftliche Aspekte der Gesundheitsfinanzierung.

Diese Prognosen berufen sich auf die Veröffentlichung der 13. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes, welche die derzeit aktuellste öffentliche Vorausberechnung darstellt. Die Ergebnisse werden häufig wie folgt zusammengefasst: Die Anzahl der Menschen im Erwerbsalter wird sich stark verringern. Als Erwerbsalter gilt die Spanne von 20 bis 64 Jahre alten Personen. Gehörten im Jahre 2013 gut 49 Millionen dieser Altersgruppe an, gibt es 2060 ein noch kleineres Erwerbspersonenpotenzial: 34 Millionen oder 30% weniger als 2013.

Um statistische Kniffe bereinigt, lässt sich aus diesen Zahlen erst einmal ableiten, dass das Erwerbspersonenpotenzial jährlich um weniger als 0,3 Prozent sinkt. Oder anders ausgedrückt: Ein Betrieb, der heute mit 335 Arbeitskräften auskommt, muss aufgrund der zunehmend alternden Gesellschaft im kommenden Jahr mit 334 Leuten auskommen. Von 30 auf 0,3 Prozent Belastung klingt zunächst unglaublich. Der wesentliche Unterschied ist der Zeithorizont: Kleine überschaubare Veränderungen werden natürlich groß, wenn man sie über 47 Jahre zusammen betrachtet. Nehmen Sie nur das Bild eines heute 20-Jährigen. Mit 67 Jahren wird er nur noch schwer wieder zu erkennen sein. Und das, obwohl von Jahr zu Jahr nicht viel passiert. Ein Raucher kann 3 Euro täglich für sein Laster als harmlos empfinden, für 47 Jahre wird das mit über 50.000 Euro als nicht finanzierbar aussehen.

Neben dem Zahlentrick der langen Zeiträume werden bei dem 30 Prozent sinkenden Erwerbspersonenpotenzial noch zwei weitere wichtige Punkte übersehen:

  • Unbeachtet bleibt, dass bei gleichzeitig prognostizierter, zurückgehender Bevölkerungszahl auch weniger Erwerbstätige benötigt werden.
  • Unberücksichtigt bleibt meist die Veränderung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre. (Quelle)

Ein Blick in die Vergangenheit hätte uns die Horrorszenarien ebenfalls ersparen können. Im letzten Jahrhundert ist die Lebenserwartung um über dreißig Jahre gestiegen. Der Anteil der Älteren (65 plus) hat sich von 4,9 auf 16,7 Prozent mehr als verdreifacht. Parallel sank der Anteil der unter 20-Jährigen auf weniger als die Hälfte. Nach heutiger Lesart handelte es sich um eine demografische Überalterung katastrophalen Ausmaßes. Die ökonomische Katastrophe fiel aber aus. Trotz zweier Weltkriege konnte der Lebensstandard in nie gekanntem Maße gesteigert werden. Alleine in der Zeit von 1960 bis heute wurde er weit mehr als verdreifacht. Parallel zum rasant wachsendem Wohlstand mit massivem Ausbau der Sozialsysteme konnten wir zusätzlich sogar die Arbeitszeiten drastisch reduzieren. Das zeigt eindeutig, dass gesellschaftliche Alterung bei sinkendem Jugendanteil nicht zu Problemen für Wirtschaft und Sozialsysteme führen muss.

Auch der Blick auf die Zeit seit der Wiedervereinigung belegt das klar.

Ab 1991 ist die Lebenserwartung schon wieder um mehr als fünf Jahre gestiegen, die Wirtschaft aber um mehr als 40 Prozent real gewachsen. Geld für die Sozialsysteme und eine vernünftige Bildung der Jugend war also ausreichend vorhanden. Probleme auf dem heutigen Arbeitsmarkt sind unter anderem auf das Sparen im Bildungsbereich und nicht zu wenigen Erwerbsfähigen zurückzuführen: 2,5 Millionen offizielle Arbeitslose plus mindestens eine Million aus der Statistik Gefallene belegen das Potenzial an Arbeitskräften.

Die hier veröffentlichten Inhalte und Meinungen der Autorinnen und Autoren entsprechen nicht notwendigerweise der Meinung des Wissenschaftsjahres 2018 – Arbeitswelten der Zukunft.