Sport schützt nicht vor den Risiken zuviel Sitzens

Ein Expertenbeitrag von Dr. med. Eric Söhngen, Gründer und CEO von WALKOLUTION - WORK AND WALK Die WHO empfiehlt 150 Minuten Training pro Woche – etwa 20 Minuten pro Tag. Reicht das aus um gesund zu bleiben, wenn man den Rest des Tages vorwiegend sitzend verbringt? Neue Studienergebnisse dazu werden Sie wahrscheinlich überraschen.
Menschen mit Bürojobs sitzen etwa zwei Drittel des Tages. Zu den Stunden im Büro kommt die Zeit im Auto, während den Mahlzeiten und schnell ein paar weitere Stunden „Screentime“.

Dass langes ununterbrochenes Sitzen tagein tagaus nicht gesund ist, wissen wir spätestens seitdem „Sitzen als das neue Rauchen“ gilt. Wer täglich die meiste Zeit im Stuhl verbringt, bekommt auf Dauer nicht nur Rückenschmerzen, sondern erhöht auch dramatisch das Risiko für viele Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, Herzkrankheit, Schlaganfall, Krebs, Depression und Demenz. [1][2][3][4]

Dr. med. Eric Söhngen ist Facharzt und Autor des Buches „Death by Sitting - Why We Need A Movement Revolution“. Medizinisch widmet er sich zusammen mit Experten aus den Bereichen Ergonomie, Evolutionsbiologie und den Lebenswissenschaften der Erforschung von gesundheitlichen Auswirkungen von Bewegungsmangel am Arbeitsplatz und der neurokognitiv optimierten Gestaltung des Arbeitsplatzes der Zukunft. Als Bergsteiger und Trailrunner, findet er seine persönliche Dosis an Bewegung in den Alpen seiner bayerischen Heimat.

Meet the Active Couch Potato

Wie verhält es sich mit denen, die 3- bis 4-mal pro Woche nach der Arbeit die Laufschuhe schnüren oder sich auf den Weg ins Fitness- oder Yogastudio machen, den sog. „Active Couch Potatoes“?  Eine amerikanische Studie[5] hat untersucht, wie sich regelmäßiger Sport bei sonst vornehmlich sitzender Tätigkeit auf vorzeitige Sterblichkeit, Herz- und Krebskrankheiten und Diabetes auswirkt. Die Schlussfolgerung: Zeit, die sitzend verbracht wird, ist ein unabhängiger Risikofaktor und kann durch Sport nicht ausgeglichen werden.

Zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommt eine Studie[6] mit 220.000 Australiern: die Lebenserwartung war umso kürzer, je mehr Zeit gesessen wird – wiederum unabhängig von sonstiger sportlicher Betätigung.

Nicht fürs Sitzen gemacht

Wie lässt sich das medizinisch erklären? Warum macht uns Sitzen krank und warum kann auch täglich intensiv betriebener Sport daran nichts ändern? Evolutionsbiologinnen und -biologen sind sich einig, dass unsere nomadischen Vorfahren nur etwa drei Stunden am Tag sitzend verbrachten. Technische Erleichterungen, motorisierter Transport und Schreibtischarbeit machen den sitzenden Alltag erst seit ca. 150 Jahren zum unbestrittenen Status quo. Mit diesem rapiden Wechsel sind unsere auf Bewegung programmierten Gene und damit unser Stoffwechsel und Bewegungsapparat jedoch hoffnungslos überfordert.

Im Sitzen ist die Muskulatur, vor allem in den Beinen, mehr oder weniger inaktiv. Das erhöht den Blutzuckerspiegel und verlangsamt den Blutfluss. Bereits nach wenigen Minuten verringert sich auch die Aktivität eines Enzyms, das den Level von Fetten im Blut ansteigen lässt. Ein chronisch erhöhter Zuckerspiegel und ein Überschuss an freien Fettsäuren im Blut führt auf Dauer zum Auftreten von Gefäßerkrankungen und Diabetes.

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Training erhöht unseren Energieverbrauch nur unwesentlich

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Finnland wollten wissen, wie viel mehr Energie wir an Tagen verbrauchen, an denen wir Sport treiben. Selbst intensives Training erhöht den Kalorienverbrauch im Durchschnitt nur um ca. 10%. Ein interessantes Nebenergebnis dieser Studie: Wer viel Sport treibt, scheint dies durch noch mehr Sitzen sogar unbewusst zu kompensieren[7].

Ob sich intensives Training bei Vielsitzenden im Hinblick auf die Verstoffwechslung einer hochkalorischen Mahlzeit auswirkt, hat zudem eine Studie[8] aus Texas untersucht. Eine Stunde intensives Training machte keinen wesentlichen Unterschied auf den Anstieg der Blutfettwerte, wenn die Probandinnen und Probanden sonst den ganzen Tag über saßen. Wer zwar genauso viel saß, aber es schaffte zusätzlich noch 17.000 Schritte zurückzulegen, schnitt mit deutlich besseren Werten ab.

Bewegung ist Grundrecht und Notwendigkeit

Bisher konzentrieren sich die Gesundheitsempfehlungen auf eine bestimmte Anzahl von Minuten Sport pro Woche. Obwohl Sport zweifelsohne viele gesundheitsfördernde Effekte hat und deshalb nie zu kurz kommen sollte, entsprechen solche Empfehlungen nicht mehr den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen. Angesichts der bedeutenden Gesundheitsrisiken, die mit einer sitzenden Lebensweise einhergehen, brauchen wir einen politischen und gesellschaftlichen Konsens, die Sitzzeit auf möglichst unter 4 Stunden pro Tag zu begrenzen.

Umsetzbar ist so etwas nur dann, wenn auch die Möglichkeit besteht, es im Alltag in die Praxis umsetzen zu können. Büros müssen so umgestaltet werden, dass das Bewegungsbedürfnis des Menschen als grundlegende Voraussetzungen zum Gesundheitserhalt anerkannt wird.

Die hier veröffentlichten Inhalte und Meinungen der Autorinnen und Autoren entsprechen nicht notwendigerweise der Meinung des Wissenschaftsjahres 2018 - Arbeitswelten der Zukunft.