Hirnforschung mit Künstlicher Intelligenz – Was sich aus Gehirnscans ablesen lässt

Ein Expertenbeitrag von Prof. Dr. Simon Eickhoff, Forschungszentrum Jülich

Ihr Gehirn, liebe Leserin, lieber Leser, ist einzigartig – ähnlich wie Ihre äußere Erscheinung oder Ihre psychischen Eigenschaften. Einige individuelle Besonderheiten im Aufbau Ihres Gehirns kann Ihnen jede ÄrztIn anhand von Vergleichsbildern zeigen, sobald er mit einem herkömmlichen Magnetresonanztomografen (MRT) Ihr Gehirn gescannt hat. Andere Unterschiede kann auch das geschulte Auge eines Radiologen oder einer Hirnforscherin anhand der Scans nicht erkennen. Künstliche Intelligenz (KI) jedoch ist dazu in der Lage – mit weitreichenden Konsequenzen.

Simon Eickhoff ist Arzt und Direktor des Instituts für Neurowissenschaften und Medizin (INM-7, Gehirn und Verhalten) am Forschungszentrum Jülich. Darüber hinaus ist er Lehrstuhlinhaber und Institutsdirektor für systemische Neurowissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Gastprofessor am Chinese Academy of Science Institute of Automation. An der Schnittstelle zwischen Neuroanatomie, Datenwissenschaft und Gehirnmedizin arbeitet er an einer detailliertere Charakterisierung des menschlichen Gehirns und seiner interindividuellen Variabilität, um auf dieser Basis Veränderungen im fortgeschrittenen Alter sowie bei neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen besser zu verstehen und vorhersagen zu können .

Hirnscan verrät Alter, Geschlecht, Persönlichkeit

Nicht direkt offensichtliche Unterschiede betreffen etwa die Netzwerke, die sich aus verschiedenen Hirnregionen bilden, sobald komplexe Aufgaben zu erledigen sind. Beispielsweise wenn Sie Gesichter erkennen oder Sie sich etwas merken. So haben wir MRT-Scans von Hunderten von Versuchspersonen ausgewertet und deren Gehirnaktivität in funktionellen Netzwerken bestimmt. Mit den erhaltenen Daten haben wir eine selbstlernende Software aus dem Bereich der KI gefüttert. Außerdem haben wir der Software Informationen über den jeweiligen gescannten Menschen gegeben, etwa sein Alter, sein Geschlecht oder seine Resultate bei einem Persönlichkeitstest. Anschließend trainierten wir die Software darauf, die Aktivität in den funktionellen Netzwerken mit den anderen Daten zu verknüpfen. Dadurch lernte sie und war später in der Lage, Voraussagen über andere Menschen zu treffen, von denen sie nichts weiter als die Hirnscans vorgesetzt bekam. Auf diese Weise konnten wir nur anhand der Scans mit Hilfe der KI das Alter von Probanden bestimmen, mit einer Abweichung von höchstens fünf Jahren. Oder wir konnten gut vorhersagen, wie ein Proband bei psychologischen Tests hinsichtlich seiner Offenheit, Verträglichkeit und emotionalen Stabilität abschneidet.

Plakativ formuliert heißt das: Zeigen Sie der KI Ihren Hirnscan und sie zeigt Ihnen, wer Sie sind. Die wichtigsten Anwendungen hierfür liegen im medizinischen Bereich.

Hoffnung: KI sagt Krankheitsverlauf vorher

Ein Beispiel ist die Depression: Bis zu 30 Prozent aller Menschen, die sich von einer schweren Depression erholt haben, erkranken später erneut. Für viele wieder genesene Patientinnen und Patienten ist es daher sehr wichtig zu erfahren, ob sie wohl von einer erneuten Episode betroffen sein werden. Das kann ihnen aber derzeit kein Arzt seriös vorhersagen. Wir hoffen, dass es mittels Hirnscan und KI künftig möglich sein wird, eine individuelle Prognose zu geben, also die individuelle Wahrscheinlichkeit für einen Rückfall. Ein anderes Beispiel wäre die Prognose bei neurodegenerativen Erkrankungen wie dem Morbus Parkinson. Wie wird sich die Beweglichkeit verändern? Wird in Zukunft eine Demenz auftreten? Unsere Idee hierzu lässt sich anhand zweier Patienten erläutern, deren aktueller Krankheitszustand äußerlich gleich ist, bei denen aber die KI Unterschiede in den Hirnscans findet. Diese Unterschiede legen nahe, dass der Zustand des einen eigentlich besser sein müsste als er ist, der des anderen jedoch schlechter. Das weist also möglicherweise auf verschiedene Krankheitsverläufe hin, noch bevor die Symptome für Ärzte erkennbar sind. Im besten Fall könnten die Ärzte die Behandlung entsprechend frühzeitig anpassen.

Ein breites Anwendungsfeld

Auch wenn unsere Forschung sich auf die klinische Anwendung fokussiert, so sind die entwickelten Verfahren grundlegender Natur: Das Ziel der Vorhersage wird nur durch die vorhandenen Trainingsdaten limitiert. Daraus folgt, dass Hirnscans zum Beispiel auch einmal die klassischen Tests und Fragebögen ersetzen könnten, die etwa beim Assessment-Center in Bewerbungsverfahren eingesetzt werden. Gerade wegen des breiten Potentials nehmen wir Kritik und Sorgen angesichts eines möglichen Missbrauchs etwa durch Versicherungen oder durch autoritäre Staaten sehr ernst. Doch die Konsequenz kann nicht sein, dass wir in Deutschland und speziell im öffentlich finanzierten Forschungszentrum Jülich die Forschung an einem solchen Thema einstellen. Stattdessen möchten wir die Möglichkeiten und Grenzen von KI transparent machen.

 

Die hier veröffentlichten Inhalte und Meinungen der Autorinnen und Autoren entsprechen nicht notwendigerweise der Meinung des Wissenschaftsjahres 2019 – Künstliche Intelligenz.

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