Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Sicherheit

Funktionieren komplexe Gesellschaften ohne Hierarchien?

19.07.2022
Kurz und knapp

Menschliche Gesellschaften, die nach dem Prinzip der Selbstorganisation aufgebaut sind, funktionieren wie Fisch- und Vogelschwärme: Jedes Mitglied folgt den gleichen festgelegten Regeln in der Interaktion mit dem nächsten Nachbarn. Im Resultat ergibt sich daraus eine stimmige Gesamtstruktur. In der Anthropologie und in der Gemeinwohl-Ökonomie finden sich dafür zahlreiche Erfolgsbeispiele. Auch die auf der Blockchain-Technologie basierende Peer-to-Peer-Währung funktioniert nach diesem Prinzip.

Fische und Vögel machen es vor

Der grundlegende Funktionsmechanismus, wie Gruppen von Individuen sich ohne eine hierarchische Ordnung selbst koordinieren können, lässt sich an Schwärmen von Fischen oder Vögeln studieren. Das Erfolgsrezept: lokale Optimierung. Bereits in den 1980er Jahren gibt es Versuche, Schwarmverhalten mittels Computersimulationen zu modellieren. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen fanden heraus, dass bereits ein einfaches Set an Regeln ausreicht, um erfolgreiches Schwarmverhalten herbeizuführen. Erstens: Bewege dich in Richtung des Mittelpunkts derer, die du in deinem Umfeld siehst. Zweitens: Bewege dich weg, sobald dir jemand zu nahe kommt. Drittens: Bewege dich in etwa in dieselbe Richtung wie deine Nachbarn. Mittlerweile weiß man aus empirischen Untersuchungen von Vogelschwärmen, dass Vögel sich tatsächlich nach derartigen Regeln verhalten.

Ein Dorf in den Pyrenäen

Menschliche Gesellschaften, die nach dem Prinzip der Selbstorganisation aufgebaut sind, funktionieren auf ganz ähnliche Weise. Die britischen Anthropologen David Graeber und David Wengerow beschreiben in ihrem vor kurzem erschienenen Buch Anfänge (2022) das Beispiel des Dorfes Sainte Engrâce in den französischen Pyrenäen. In diesem Dorf sind alle Häuser in einem Kreis angeordnet. Dies ermöglicht es, die saisonale Rotation von Pflichten und Aufgaben der Dorfmitglieder auf einfache Weise zu organisieren. Jeden Sonntag segnet ein Haushalt zwei Brote in der Dorfkirche. Eines davon ist für den Eigenkonsum bestimmt, das andere wird an den Nachbarn zur rechten verschenkt. Auf die gleiche Weise wird für das Pflanzen und Ernten, das Melken und Scheren, die Käseherstellung und das Schlachten von Schweinen gegenseitige Hilfe organisiert.

Ist ein Haushalt nicht in der Lage, rechtzeitig seinen Verpflichtungen nachzukommen, greifen Ersatzregeln. Wenn man bedenkt, dass manche der Aufgaben den Einsatz von bis zu zehn Haushalten erfordern, bekommt man eine Ahnung davon, wie komplex dieses Arrangement ist – denn schließlich müssen alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Tauschkreises ihre Einsatzzeiten entsprechend planen. Graeber und Wengerow sind der Ansicht, dass sich ein solches egalitäres gesellschaftliches Modell auch auf Gemeinschaften mit vielen Hunderten oder gar Tausenden Haushalten übertragen ließe.

Gemeinwohl-Ökonomie

Ein anderes Forschungsfeld, das sich mit der Selbstorganisation gesellschaftlicher Systeme befasst, ist die Allmende-Ökonomie oder die Ökonomie der Gemeingüter. Gemeingüter sind Dinge wie etwa eine Weide, die von allen im Dorf genutzt wird, oder Grundwasserreserven. Die bekannteste Forscherin auf diesem Gebiet war Elinor Ostrom, die 2009 als erste Frau überhaupt für ihre Arbeiten zur Organisation von Kooperation den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt. Ostrom fand heraus, dass bei der kommunalen Organisation von Gemeingütern kleinere und um lokale Zentren organisierte Systeme besser funktionieren als eine zentrale Verwaltung. Ein anschauliches Beispiel dafür ist eine Episode aus dem Leben der Hummerfischer im US-Bundesstaat Maine.

In den 1920er Jahren standen dort die Bestände durch Überfischung kurz vor dem Kollaps. Die Fischer einigten sich darauf, trächtige Weibchen am Schwanz mit einem „V“-Zeichen zu markieren und wieder freizulassen, um den Nachwuchs nicht zu gefährden. Wer sich nun als Verkäufer oder Käufer von Hummern nicht an die vereinbarte Schonung der trächtigen Weibchen hielt, der wurde durch dieses „V“ sofort enttarnt. Die Lösung funktionierte vermutlich besser als ein staatliches Fangverbot. Heute zählt Maine zu den weltweit erfolgreichsten Zentren der Hummerfischerei.

Elinor Ostrom hat Fälle wie diesen in einer Datenbank gesammelt und systematisch ausgewertet. So gelangte sie zu einer Liste von acht Design-Prinzipien, deren Beachtung für die erfolgreiche Organisation von Gemeingütern zu beachten sind. Die Prinzipien sind zu komplex, um hier wiedergegeben zu werden, aber sie lassen sich im Internet leicht nachschlagen. Grob zusammengefasst kreisen die Prinzipien alle um den Gedanken von lokalen Zentren und stufenartig angelegten Verfahren, um die Einhaltung von Regeln zu überwachen und Zuwiderhandlungen gegebenenfalls zu sanktionieren.

Peer-to-Peer Geld

Ein letztes Beispiel dafür, wie komplexe gesellschaftliche Systeme ohne eine zentrale Eingriffsstelle organisiert werden können, stammt aus dem Bereich der digitalen Technologien. Es handelt sich um Blockchain. Die bekannteste Anwendung der Blockchain-Technologie ist die Peer-to-Peer-Währung Bitcoin. Das besondere bei Bitcoins ist, dass sie ohne eine Zentralbank oder ein anderes staatliches Organ funktionieren. Allein auf technologischem Weg wird gewährleistet, dass niemand Bitcoins einfach fälschen kann. Das Grundprinzip von Blockchain funktioniert wie ein Kerbstock. Bei dieser zugleich primitiven wie ausgefuchsten Technik werden zwei Stöcke nebeneinander gelegt und quer eingeritzt. Jede Kerbe entspricht einer Schuldsumme. Nun nimmt der Gläubiger den einen Stock und der Schuldner den anderen. Keiner von beiden kann eine Kerbe hinzufügen, keiner eine Kerbe beseitigen, ohne dass der Versuch einer Fälschung sofort sichtbar würde. Blockchain überträgt diesen Gedanken in die digitale Welt – nur, dass hier nicht nur zwei Parteien beteiligt, sind, sondern Ketten von sehr, sehr vielen Akteuren. An die Stelle der Kerbstöcke treten Computerfestplatten, auf denen die geteilten Codes gespeichert werden.

Die Tatsache, dass Bitcoins ohne die direkte Hilfe einer zentralen oder staatlichen Organisation funktionieren, bringt allerdings eine weitere Besonderheit mit sich: Wer seinen Lebensunterhalt in Bitcoin verdient, also Lohn oder Gewinn in Bitcoin ausgezahlt bekommt, kann ungehindert und ohne Grenzen Steuern hinterziehen oder mit illegalen Gütern handeln. Die Behörden können seine Geldflüsse, anders als bei einem Bankkonto, welches staatlicher Regulierung unterliegt, nicht wirksam kontrollieren.

Der Wikipedia-Artikel „Schwarmverhalten“ erläutert, wie Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen die Selbstorganisation von Vogel- und Fischschwärmen erklären. 

Ein Beitrag auf den Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung gibt einen guten Überblick zu Elinor Ostroms Arbeiten zur Gemeinwohl-Ökonomie. Auch die acht Design-Prinzipien sind hier aufgelistet. 

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1 Artikel  ·  Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Sicherheit
Mauke02.03.2022