Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Sicherheit

Warum glauben die Menschen (bzw. viele) an Gott?

11.08.2022
Kurz und knapp

Die Frage nach dem Sinn des Seins brachte den Glauben in die Welt. In Bestattungsritualen und Grabbeigaben sind seine Ursprünge zu erkennen. Mythen und Rituale regelten einst das Zusammenleben und schlichteten Streitigkeiten. Hoffnung und Optimismus: Der Glaube half unseren Vorfahren, nicht an ihrem Schicksal zu verzweifeln und verfestigte sich möglicherweise sogar genetisch.

Die Frage nach dem Werden und Vergehen

Für die Antwort auf diese Frage gibt es verschiedene Ansätze. Beginnen wir mit dem der historischen Herleitung. Mit dem Bewusstsein kam beim Menschen auch die Frage nach dem „Woher?“ und „Warum?“ seiner Existenz auf. Und auch die Frage, ob mit dem Tod alles zu Ende ist oder ob sich daran mindestens noch eine weitere Welt anschließt, beschäftigte ihn zutiefst. „Religion entstand aus der Sorge um das Schicksal der Toten“, sagt die Religionswissenschaftlerin Ina Wunn. Bestattungsrituale stellen somit die Ursprünge des Glaubens dar. Einige Forschende vermuten das älteste überlieferte Bestattungsritual im Gebiet des heutigen Äthiopien, wo vor 600.000 Jahren Urmenschen einem Verstorbenen sorgfältig die Haut vom Schädel zogen. Auch der Blumenschmuck, den Neandertaler vor 60.000 Jahren einem Toten im Gebiet des heutigen Nordirak mit ins Grab gaben, ist noch kein Beweis für Jenseitsvorstellungen, aber durchaus ein Indiz.


Grabbeigaben als Zeugnis eines religiösen Systems

Doch spätestens vor 28.000 Jahren waren Grabbeigaben so weit verbreitet, dass sich ein religiöses System dahinter erkennen lässt. Und sogar seit 32.000 Jahren fertigte der moderne Mensch aus Elfenbein Figuren an, Mischwesen aus Mensch und Tier, die einen schamanistischen Hintergrund vermuten lassen.

Mit der Sesshaftwerdung vor etwa 11.000 Jahren kam der Bedarf nach Regeln für das Zusammenleben in den Gemeinschaften auf. Vor der Erfindung von Gesetzen leiteten Rituale und Mythen zum „richtigen“ Handeln an, dienten der Streitbeilegung und förderten so den Zusammenhalt. Haben zwei Menschen unterschiedliche Meinungen, lässt sich schnell ein Frieden schließen unter Berufung auf höhere Gesetzmäßigkeiten oder überlieferte Handlungen, die nicht mehr hinterfragt werden. Schamanen und Priester als Verwaltende des kultischen Wissens nahmen in den Gemeinschaften einen hohen Rang ein.


Wunsch nach göttlichem Beistand

Spätestens mit der Suche nach Erklärungen für Regen oder Trockenheit, für Blitz und Donner, Hitze und Kälte, mit der Frage nach dem besten Zeitpunkt für die Aussaat und Einflussmöglichkeiten für eine gute Ernte personifizierte sich der Glaube an ein oder mehrere höhere Wesen, die direkten Einfluss aufs Schicksal nehmen. Dieser Wunsch nach göttlichem Beistand, die Hoffnung und der Glaube daran, dass mit dem Tod nicht alles zu Ende ist, beseelt und fasziniert viele Menschen heute noch. Es ist auch ein Weg, mit dem Gefühl der eigenen Ohnmacht umzugehen, erst recht in der Gemeinschaft mit anderen Gläubigen.


Erklärungen der Neurophysiologie und Genetik

Neben der geschichtlichen Herleitung, warum viele Menschen an Gott glauben, existieren auch neurophysiologische Ansätze. So sieht etwa der US-amerikanische Hirnforscher und Religionswissenschaftler Andrew Newberg im Glauben an eine höhere Macht den großen Vorteil, dass er unsere Vorfahren vor Depressionen bewahrte angesichts der Konfrontation mit dem Tod um sie herum (die Lebenserwartung war seinerzeit viel niedriger) und der eigenen Sterblichkeit. Einfach weil sich die Angst vor dem unabänderlichen Schicksal mit dem Glauben an eine höhere Macht reduziert.

Andere Forschende sehen den Glauben in den Genen verankert. „Der Mensch glaubt von Natur aus, weil ihm seine Gene nichts anderes übriglassen“, fasst der Journalist Markus Hofelich zusammen. „Eine der wichtigsten Aufgaben der Gottes-Gene besteht darin, den Menschen mit Optimismus zu versorgen. Und so seine Überlebenschancen zu steigern.“ Er führt außerdem den kanadischen Psychologen und Neurotheologen Michael Persinger an. Dieser „geht davon aus, dass Spiritualität eine neurobiologische Basis hat, die in angeborenen Gehirnstrukturen besteht. Seine These: Religiosität ist ein reines Konstrukt des Gehirns, das die Evolution hervorgebracht hat.“


Die „Theory of Mind“

Auch die Schweizer Neurologin Maja Strasser ist überzeugt: „Die Fähigkeit zu glauben ist eine evolutionär entstandene Veranlagung: Wir neigen dazu, Zufälle miteinander zu verbinden und Muster zu erkennen, wo gar keine sind. Dies entwickelt sich ab unserem vierten Lebensjahr, weil wir dann zu interpretieren beginnen, was in anderen vorgeht.“ Als „Theory of Mind“ wird dieses Phänomen bezeichnet, das es uns erst ermöglicht, mit anderen zu kooperieren und unsere Umwelt einzuordnen. Strasser: „Studien haben gezeigt, dass religiöse Personen besonders stark zu teleologischem Denken neigen, also zu denken, dass zum Beispiel Pflanzen, Steine oder das Sonnenlicht für einen bestimmten Zweck geschaffen wurden.“

Wirklich fest steht nur: Wissenschaftlich beweisen lässt sich weder die Existenz Gottes noch das Gegenteil.

 

Eine sehr ausführliche Darstellung mit zahlreichen Grafiken gibt es hier.

Die Neurologin Maja Strasser ausführlicher in diesem Artikel in der „Annabelle“