Kultur, Wissen, Bildung

Warum sprechen nicht alle
Menschen dieselbe Sprache?

10.10.2022
Kurz und knapp

Menschen verständigen sich weltweit in mehr als 7000 verschiedene Sprachen. Zählt man Zeichensprachen und artifizielle Sprachen noch hinzu, sind es sogar um die 8000. Auf die Frage, wie es zu dieser Vielfalt kommt, haben Forschende gleich mehrere Antworten gefunden: So spielen geographische Voraussetzungen eine Rolle ebenso wie soziokulturelle Gegebenheiten und anatomische Besonderheiten. Aber auch der Zufall mag sein Quäntchen dazugetan haben.

Gemeinsame Wurzeln

Zunächst einmal: Sprache ist eine höchst individuelle Angelegenheit. Wer ganz genau hinhört, wenn sich zwei Menschen mit derselben Muttersprache unterhalten, wird leichte Unterschiede bemerken. Nuancen nur, etwa eine marginal andere Aussprache, eine abweichende Betonung, Vorlieben bei Wortwahl, Satzbau und Grammatik. Es ist leicht vorstellbar, dass sich die Sprache der beiden weiter auseinander entwickeln wird, wenn sie nach dem Gespräch für lange Zeit völlig getrennt voneinander leben und mit sehr unterschiedlichen Einflüssen konfrontiert sind.

Tatsächlich gehen Linguistinnen und Linguisten heute davon aus, dass sich die Sprachvielfalt auf sogenannte Protosprachen zurückführen lässt. Dabei handelt es sich um hypothetische Ursprungssprachen, aus denen sich die heute gesprochenen ebenso wie die bereits ausgestorbenen Sprachen sehr wahrscheinlich entwickelt haben. Forschende der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft erstellen dazu Sprachstammbäume: Sie vergleichen Sprachen miteinander, analysieren Unterschiede und Gemeinsamkeiten und ermitteln so die Verwandtschaftsverhältnisse innerhalb einer Sprachfamilie. Ein Beispiel dafür ist die indogermanische oder indoeuropäische Sprachfamilie, die der britische Orientalist Sir William Jones (1783–1794) im Jahr 1786 erstmals definierte. Der gemeinsame Ursprung dieser Sprachen könnte in Anatolien liegen – andere Hypothesen verorten ihn in den Steppen Osteuropas, im südlichen Kaukasus oder im nördlichen Iran.

„Wir gehen heute von rund 200 bis 300 solcher Sprachfamilien aus“, sagt Christian Bentz, Linguist an der Universität Tübingen. Bis zu maximal 10000 Jahre lassen sich die Wurzeln unserer heutigen Sprachen zurückverfolgen. „Ob es davor noch eine gemeinsame Protosprache gab, von der alle späteren Sprachen abstammen, lässt sich wissenschaftlich nicht seriös nachvollziehen“, sagt Bentz.

 

Umwelt und Lebensstil sorgen für Vielfalt

Wie aber kam es nun zur Auffächerung der Protosprachen zu der uns heute bekannten Vielfalt? Der US-amerikanische Ethnologe und Linguist Edward Sapir (1884-1939) prägte dazu bereits 1921 den Begriff des sprachlichen Drifts – also einer langsamen Veränderung der ursprünglichen Sprache zu neuen Dialekten und zu Unterdialekten, die sich schließlich so weit von ihrem Ursprung unterscheiden, dass sie neue Sprachen darstellen. Dabei kann zum Teil der Zufall eine Rolle spielen, ähnlich wie im eingangs erwähnten Beispiel. Eine ursprünglich gemeinsame Sprache würde sich durch geographische Trennung langsam verändern – weil sich zufällig neue Varianten einschleichen.

Cristian Bentz hat 2018 gemeinsam mit internationalen Kollegen eine Studie veröffentlicht, in der die Forschenden mehr als 6000 Sprachbäume von 46 Sprachfamilien untersucht hatten. Sie kamen dabei zu dem Schluss, dass eine kontinuierliche Veränderung, wie sie der Zufall hervorbringen würde, nicht ausreicht, um die Vielfalt zu erklären. Demnach spielen Umweltbedingungen eine erhebliche Rolle bei der Frage danach, wie schnell sich eine Sprachlinie weiterentwickelt und wie stark sie sich verzweigt. So bestimmen zum Beispiel die geographische Lage oder die Größe einer Bevölkerungsgruppe mit darüber, wie schnell sich eine Sprache weiterentwickelt und auffächert. Auch soziologische Faktoren sind für die Sprachvielfalt von Bedeutung. In Papua-Neuguinea existieren rund 800 verschiedene Sprachen. Der Grund für diese enorme Vielfalt könnte in der Tradition einzelner Dörfer und Gemeinschaften liegen, die sich durch eigene Sprachen identifizieren.

Eine Rolle spielt auch der Lebensstil. Forschende aus der Schweiz haben festgestellt, dass sich mit dem Übergang vom Leben als Jäger- und Sammler zum Ackerbau in der Jungsteinzeit die Anatomie des Kauapparats veränderte. Weichere Nahrung führte zu dem für uns heute typischen Überbiss, bei dem die oberen Schneidezähne vor den unteren stehen. Damit lassen sich so genannte labiodentale Laute wie „f“ oder „v“ leichter aussprechen als mit einem Aufbiss, bei dem die Schneidezähne exakt aufeinander stehen. Mit der Verbreitung der neuen Ernährungsgewohnheiten setzte sich diese Kieferform durch – und mit ihr die labiodentalen Laute in den indogermanischen Sprachen.

 

Schwindende Vielfalt

Mittlerweile ist die Sprachenvielfalt jedoch rückläufig. Rund 50 Prozent der Menschheit spricht eine der Weltsprachen, vorrangig Englisch, Chinesisch oder Spanisch. Viele kleine Sprachen verschwinden. Wenn nur noch wenige Sprecher eine bestimmte Sprache nutzen und sie nicht an ihre Kinder weitergeben, ist sie eine Generation später tot.

„Ohne Intervention könnte sich der Sprachverlust innerhalb von 40 Jahren verdreifachen, wobei mindestens eine Sprache pro Monat verloren gehen wird,“ schreiben australische Forschende in einer Studie aus 2022. Bis zu 1500 Sprachen könnten bis zum Ende des Jahrhunderts verschwinden, so ihre Schätzungen. Zu den Gründen zählen Umsiedelungen in urbane Räume, aber auch Bildung, die dazu führen kann, dass Muttersprachen kleinerer Gruppen verdrängt und durch dominante Sprachen ersetzt werden. Überraschenderweise zählen zu den Gefahren der Sprachvielfalt auch bessere Straßennetze: Mit zunehmender Anbindung abgelegener Regionen an urbane Gegenden und Städte steigt das Risiko, dass Sprachen vormals isolierter Gruppen aussterben.

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1 Artikel  ·  Kultur, Wissen, Bildung
Anonym22.02.2022