Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Sicherheit

Wie viel ist angeboren und wie viel ist anerzogen?

01.11.2022
Kurz und knapp

„Typisch männliche“ und „typisch weibliche“ Verhaltensweisen können helfen, sich zu orientieren. Schon weil uns unsere Gene geschlechtsspezifische Vorlieben mitgeben. Was daraus entsteht, liegt aber an uns selbst und an dem, was uns Familie und Gesellschaft vorleben. Wichtig ist, dass wir unsere Stärken und Fähigkeiten frei entwickeln können.

„Nur für Jungs“/„Nur für Mädchen“: Bedürfnis oder Geschäft?

Warum tragen Mädchen und Jungen unterschiedliche Schulranzen? Brauchen sie wirklich geschlechtsspezifische Überraschungseier in Blau und Rosa oder ist das eine Marketingstrategie? Braucht es Getränke, die „auf die unterschiedlichen Bedürfnisse und Wünsche von Jungen und Mädchen zugeschnitten sind“, wie ein Hersteller behauptet? „Sportlich-cool für Jungs und der zauberhafte Elfendrink für Mädchen“? Erfüllen diese Produkte wirklich ein Bedürfnis? Oder schaffen, reproduzieren, zementieren sie lediglich Rollenklischees? Und, um noch mehr Fragen anzuschließen: Darf man dem Mädchen ein Auto und dem Jungen eine Puppe schenken?

 

Blau und Rosa sind willkürliche Zuschreibungen

Nicht immer lassen sich die Ursprünge kindlicher Vorlieben so leicht ergründen wie bei der Zuschreibung der Farben Blau und Rosa auf Jungen und Mädchen. Wenn man Babys gewähren lässt, ziehen sie Blau allen anderen Farben vor, wie eine Studie ergab. Die Rosa-Blau-Zuordnung ist eindeutig eine gesellschaftliche: Tatsächlich war Rosa jahrhundertelang die Jungs-Farbe, das „kleine Rot“, das wiederum die Farbe der Herrschenden war. Blau dagegen war die Farbe der Jungfrau Maria, also trugen Mädchen natürlich Blau.

Diese Zuschreibungen verblassten mit dem schwindenden Einfluss der Religion, während sich zugleich Blau zur Farbe der Matrosen und Arbeiter entwickelte, also männlich aufgeladen wurde. Und Pink, gewissermaßen die Steigerung von Baby-Mädchen-Rosa, ist sowieso eine industrielle Farbe: „Die Vorliebe für Pink kann den Mädchen gar nicht angeboren sein, denn Pink ist eine Farbe, die in der Natur so nicht vorkommt und erst seit wenigen Jahrzehnten überhaupt mit Mädchen verbunden wird“, schreibt der Jugendforscher Axel Dammler in seinem Buch „Rosa Ritter und schwarze Prinzessinnen“.

Ob Aussehen, Charaktereigenschaften oder Verhaltensweisen: Das meiste davon sei durch unsere Gene festgelegt, der Einfluss von Erziehung und Umwelt im Vergleich verschwindend gering. Das war noch vor wenigen Jahren die vorherrschende Ansicht in der Wissenschaft. Doch das Farbenbeispiel zeigt, dass etwa Vorlieben keineswegs genetisch festgelegt sind. Heute ist man sich weitgehend einig: Gene und Umwelt beeinflussen sich gegenseitig, stehen in einem ständigen Wechselspiel.   

 

Entscheidend ist das soziale Umfeld

Die Anteile dessen, was biologisch angelegt und was kulturell bedingt ist, lassen sich nicht auf eine simple Prozentformel bringen. Entscheidend ist, wie so oft, das soziale Umfeld und letztlich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Wird einem Kind vorgelebt, dass sich beispielsweise nur Männer für technische Berufe interessieren, während Frauen in sozialen Berufen Erfüllung finden, so wird es diese Stereotype mit hoher Wahrscheinlichkeit übernehmen. Aber „wie soll ein Junge ein fürsorglicher Mensch werden, wenn von allen Seiten propagiert wird, dass Jungen wild, raubeinig und durchsetzungsstark zu sein haben oder gar ‚von Natur aus‘ sind?“, fragen Sascha Verlan und Almut Schnerring (Autoren von „Die Rosa-Hellblau-Falle: Für eine Kindheit ohne Rollenklischees“). „Und wie sollen Mädchen, für die ein Versandhaus ein rosa T-Shirt mit dem Aufdruck ‚In Mathe bin ich Deko‘ kreierte, sich von der Überzeugung befreien, dass Mathematik und Technik nun mal nichts für sie sei?“

 

Unsere Gene legen uns nicht fest

Wenn die Tochter die Alternativangebote ausschlägt und partout mit Puppen spielen will, darf sie das. Mädchen oder Junge oder alles dazwischen kann man auf verschiedene Weise sein. Das sollte im besten Fall im Elternhaus und in der Gesellschaft aktiv vorgelebt werden: Ein Vater, der kocht und wickelt, eine Mutter, die technische Aufgaben löst, das sind Vorbilder, die sich einprägen.

Natürlich gibt es biologische Unterschiede: Männer sind im Durchschnitt größer als Frauen, ihr Körper hat einen höheren Anteil an Muskelmasse, sie haben breitere Schultern und ein schmaleres Becken, was sie früher bei der Jagd „geländegängiger“ machte. Ihre genetischen Unterschiede führen dazu, dass sie teils auch heute noch zu unterschiedlichen Verhaltensweisen neigen: Frauen sind oftmals personen- und beziehungsorientierter, Männer lieben das Kräftemessen und das Risiko. „Die Anlagen führen dazu, dass bestimmte Verhaltensweisen leichter fallen und mehr Spaß machen. Was nicht so sehr den genetischen Vorgaben entspricht, fällt dagegen schwerer, kann aber trotzdem erlernt werden“, sagt Doris Bischof-Köhler, Professorin für Psychologie an der Universität München.

Unsere Gene legen uns nicht fest, heutzutage können wir uns auf allen Gebieten ausprobieren. Wichtig ist, Kinder mit ihrer gesamten Persönlichkeit wahrzunehmen, sie nach ihren Stärken und Fähigkeiten zu fördern und nicht dahingehend zu erziehen, Geschlechterrollen zu erfüllen. Ein Kind muss wissen: „Du kann sein, wie du sein möchtest.“

 

Interessante ZDF-Doku: „No more boys and girls" In diesem Social Factual zeigt die Moderatorin Collien Ulmen-Fernandes, wie konservativ und klassisch selbst bei heute Siebenjährigen die Rollenbilder von Frau und Mann sind und woher das kommt.

Wie Stereotype unser Verhalten gegenüber Kindern beeinflussen, zeigt dieses kurze Video der BBC: Girl Toys vs. Boy Toys: The Experiment

Was trennt Mann und Frau wirklich voneinander? Ein Gespräch mit dem Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt in der „Süddeutschen Zeitung“

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1 Artikel  ·  Gesundes Leben, Medizin, Pflege
Anonym01.04.2022