Innovation, Technik, Arbeit

Wird Virtual Reality irgendwann Reality ersetzen?

17.10.2022
Kurz und knapp

Warum brauchen wir eine virtuelle Realität, wo wir doch eine echte haben? Erst einmal aus demselben Grund, aus dem wir Geschichten erzählen, Bücher lesen und Filme schauen: Man kann imaginär so viel mehr erleben, als der Alltag es für die meisten Menschen vorsieht. Die Virtuelle Realität bietet hier eine neue Qualität – und immer neue Funktionen.

Technik für die perfekte Simulation

Wenn eine künstliche Welt sich richtig echt anfühlt, sprechen Fachleute von Immersion, man ist „drin“. Erzeugt wird diese in der virtuellen Realität meist durch eine Art Brille, in der zwei hochauflösende Displays zwei etwas unterschiedliche Bilder erzeugen, sodass man das Gezeigte dreidimensional wahrnimmt. Die VR-Brille hat zudem Sensoren, die messen, wie man den Kopf bewegt, damit das Bild sich entsprechend verändert, wenn man nach rechts oder links schaut.

Die längste Zeit musste man die VR-Brille über ein Kabel mit einem Computer verbinden, inzwischen gibt es auch Modelle, die unabhängig funktionieren und so mehr Bewegungsfreiheit ermöglichen.

Meist kann man in der virtuellen Welt nicht nur herumschauen, sondern als Avatar, also als virtuelle Figur, auch etwas tun. Dazu benötigt man weiteres Zubehör, etwa einen VR-Controller, Datenhandschuhe, ein Laufband oder spezielle Schuhe, die die echten Bewegungen in die virtuelle Welt übertragen und auch Rückmeldung geben. Man spürt also, wenn man einen Gegenstand „berührt“, man hört, wenn andere sprechen, manche Systeme produzieren sogar Gerüche.

 

Ein eher zäher Start

Schon länger erwarten Analysten, dass die VR-Technik richtig durchstartet, doch bislang ist sie eher ein Nischenphänomen. In einer Umfrage des Branchenverbands Bitkom gaben nur 17 Prozent der Deutschen über 16 Jahren an, VR-Brillen zu verwenden. Die meisten von ihnen nutzen sie für Computerspiele, gefolgt von virtuellen Reisen, dem Besuch von Musikkonzerten und für Fitnessprogramme. Neun Prozent verwenden VR-Programme zum Entspannen, etwa mit virtuellen Malprogrammen.

VR-Simulationen finden zudem bei der Ausbildung von Soldatinnen, Pilotinnen oder Lokführerinnen Verwendung; mit ihrer Hilfe kann man schon in der Planungsphase durch das neue Haus spazieren. In der Medizin kommt VR bei der Therapie von Phantomschmerzen und Phobien zum Einsatz und bei der Ausbildung von Medizinerinnen. Für manche Sport- und Kulturveranstaltungen werden bereits VR-Tickets verkauft.

Denkbar ist freilich noch sehr viel mehr: Beim Shoppen könnte der Avatar die Kleidung anprobieren, deren Stoff man zugleich mit dem Datenhandschuh prüft. Statt Geschichte aus Büchern zu lernen, könnte man historische Ereignisse in VR beobachten; statt ein Erklärvideo zu schauen, mit Forschenden zum Mond fliegen. Phantasiewelten könnten mit anderen zusammen frei gestaltet werden, neue Formen künstlerischen Ausdrucks, zwischenmenschlichen Austauschs und demokratischer Abstimmung entstehen.

 

Leichte Übelkeit inbegriffen

Dass der große Boom dennoch auf sich warten lässt, hat verschiedene Gründe: Die klobigen Brillen und erst recht Datenhandschuhe und Laufbänder sind teuer. Die Brillen längere Zeit zu tragen ist (gerade für Brillenträger) kein allzu großes Vergnügen. Viele Menschen reagieren zudem auf die Immersion mit einer Art Reisekrankheit, ihr Gehirn lässt sich doch nicht so ganz austricksen und ihnen ist stets ein wenig übel.

Außerdem braucht es für den Ausflug in die digitalen Welten ein Umfeld, in dem man nicht im Eifer des virtuellen Gefechts die reale Vase von der Fensterbank wirft oder die Treppe hinunterfällt. Manche Anbieter haben dazu eine Art Laufstall entwickelt, in dem die Ausflügler angeleint werden. Aber wer möchte so seine Freizeit verbringen?

Schließlich sind die virtuellen Welten auch noch nicht wirklich realistisch, die Avatare simpel.

 

Das Metaverse: Traum oder Albtraum?

Auch das Metaverse lässt bislang auf sich warten. Mit einem Avatar von der einen Welt in die andere wandern kann man bislang nicht. Doch schon heute kaufen Menschen in virtuellen Welten Grundstücke, vermieten dort Werbeflächen oder werben selbst für ihre virtuellen und analogen Produkte.

Noch ist offen, in welche Richtung sich VR entwickeln wird. Die positive Vision ist die einer freien digitalen Welt mit nahezu unbegrenzten Möglichkeiten zu Begegnungen und Austausch. Die negative ist eine zentral gesteuerte Simulation, in der die Nutzerinnen und Nutzer möglichst viel Lebenszeit verbringen sollen, ein geschlossenes Universum, in dem jeder Schritt überwacht und analysiert wird und dessen Spielregeln ein Konzern bestimmt.

 

Die Zukunft

Wenn es läuft, wie sich die Entwicklerinnen und Entwickler dies vorstellen, wird es in Zukunft üblicher werden, sich die – dann natürlich viel leichter, bequemer und billiger gewordene – VR-Brille aufzusetzen, um sich zu amüsieren, zu arbeiten, zu shoppen oder andere Dinge zu erledigen, so wie man es heute mit PC, Laptop, Tablet oder Konsole macht.

Sicher wird auch Augmented Reality, AR, eine Rolle spielen. Dabei werden von einer Datenbrille Informationen in die wirkliche Welt eingeblendet, etwa die Namen von Bauwerken oder die auszuführenden Arbeitsschritte bei der Reparatur eines Motors. Vermutlich werden wir immer mehr in einer Mischung aus echter, erweiterter und virtueller Welt leben, in einer Mixed Reality.

Letztlich bleibt der Mensch freilich ein verkörpertes Wesen und damit der analogen Wirklichkeit verhaftet, die bislang noch immer so viel reichhaltiger und freier ist als jede Simulation.

 

Interview mit Prof. Frank Steinicke (Hamburg) zur Bedeutung von VR für die Gesellschaft finden Sie hier

München’72: Die Olympischen Spiele 1972 in München, bei denen palästinensische Terroristen Mitglieder der israelischen Mannschaft als Geiseln nahmen, als VR-Geschichtsstunde. 

Tom Ball: Die Geschichte der virtuellen Realität. 

Inspirierende Fragen

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Anonym28.06.2022