Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Sicherheit

Würde eine Gesellschaft ohne
Polizei funktionieren?

28.12.2022
Kurz und knapp

Eine Gesellschaft ohne Polizei? Praxiserfahrungen gibt es dazu keine.
Dennoch gibt es in der gegenwärtigen politischen Theorie eine Debatte über die Abschaffung der Polizei – vor allem in den USA.

Befürworterinnen und Befürworter dessen meinen, dass die Polizei die ihr gemeinhin zugeschriebenen Aufgaben ohnehin nicht zu erfüllen imstande ist und dass deshalb eine Abschaffung nicht die von vielen befürchteten Konsequenzen mit sich bringen würde. Als Alternative werden Ansätze lokaler Gemeinschaftsverantwortung propagiert.

Polizei, Gefängnis, Sklaverei

Ob und wie eine Gesellschaft ohne eine Polizei, die ein ganzes Spektrum an Aufgaben abdeckt, möglich wäre – darüber gibt es keine wissenschaftlich belastbaren Aussagen. Dennoch ist die Idee einer Gesellschaft ohne Polizei nicht so abwegig, dass in der gegenwärtigen politischen Theorie nicht darüber diskutiert würde, und zwar unter dem Begriff „Abolitionismus“ oder genauer, „Polizei-Abolitionismus“.

Der Begriff „Abolitionismus“ verweist auf den historischen Ursprung vor allem der US-amerikanischen Polizei in der Zeit der Sklavenhaltergesellschaft. Die Ursprungsform der Polizei, so die Annahme der Abolitionsmus-Theoretiker und -Theoretikerinnen, waren Patrouillen, deren Aufgabe es war, entflohene Sklaven wieder einzufangen und Sklavenaufstände niederzuschlagen. Diese Patrouillen erfüllten eine wesentliche gesellschaftliche Funktion: Ohne sie, so heißt es, wäre die Besiedlung der USA und die Enteignung der Indigenen nicht möglich gewesen. (Konkurrierende Darstellungen, auch das sollte erwähnt werden, sehen den Ursprung der Polizei in den Metropolitan Police Departments in London und Boston. Diese waren eine Verstaatlichung privater Sicherheitsdienste in der Großstadt des ausgehenden 19. Jahrhunderts.)

Auftrieb hat die akademische Diskussion um den Abolitionismus in den USA insbesondere im Zuge der Black Lives Matter-Bewegung erfahren, welche 2020 als Reaktion auf den Polizeimord an George Floyd entstand.

 

Warum abschaffen?

Befürworterinnen und Befürworter einer Polizei-Abschaffung behaupten, die Polizei stelle primär ein Instrument zur Aufrechterhaltung rassistischer Diskriminierung und sozialer Ungleichheit dar, unter der vor allem arme und migrantische Menschen leiden. Die weiße Mehrheitsgesellschaft auf der anderen Seite bediene sich der Polizei zur Durchsetzung ihrer eigenen ökonomischen Interessen und zum Schutz von Sicherheitsbedürfnissen, die oft auf einer verzerrten Wahrnehmung der tatsächlichen Gefahrenlage beruhten. Ein weiteres Argument: Die Polizei koste Geld und andere Ressourcen, die im Bereich Bildung und Soziales besser investiert wären.

 

Ohne Polizei – was wären die Folgen?

Was bleibt ist die Frage, ob eine Abschaffung, nicht mehr Schaden als Nutzen bringen würde. 

Abschaffungsbefürworterinnen und -befürworter behaupten: Die Polizei kann die Aufgaben, die ihr gemeinhin zugeschrieben wird, nicht erfüllen. Deshalb hätte ihre Auflösung nicht die von vielen befürchteten Konsequenzen. Zudem würde in den Medien die Zahl von ernsthaften Verbrechen übertrieben dargestellt. Und der Anschein erweckt, dass Polizeiarbeit in der Hauptsache Verbrechensbekämpfung sei, während diese in Wahrheit überwiegend darin bestehe, Berichte und Beschwerden aufzunehmen, gegen Park- und Verkehrsverstöße vorzugehen und Menschen wegen geringfügiger Vergehen festzunehmen – alles Dinge, auf welche die Gesellschaft verzichten könne, ohne tiefgreifend Schaden zu erleiden.

Eine andere Spielart desselben Arguments: Die Polizei würde gegen viele gemeldete Straftaten überhaupt nicht ermitteln, und ein Großteil aller Straftaten auch nicht aufgeklärt.

Die Zahlen in Deutschland belegen dies allerdings nur bedingt. Tatsächlich liegt zumindest in einer Großstadt wie Berlin die Aufklärungsquote aktuell bei 45,3 Prozent. Von insgesamt 100 Fällen von Mord und Totschlag im Jahr 2021, wozu die Polizei auch versuchte Taten zählt, wurden sogar 96 aufgeklärt. Bei den 179.455 Fällen von Diebstahl, andererseits, konnten lediglich 21,7 Prozent aufgeklärt werden.

 

Alternative Ansätze

Ganz abgesehen von den vorgebrachten Argumenten für eine Abschaffung stellt sich die Frage, wie – wenn nicht mit Hilfe der Polizei – sich eine Gesellschaft denn anders gegen schwere Straftaten schützen sollte. Die Abolitionisten verweisen hier auf Maßnahmenpakete, die unter Begriffen wie „Transformative Justice“ oder „Community Accountability“ entwickelt und erprobt wurden. Die Idee: Demokratisch organisierte Freiwilligen-Netzwerke sollen auf lokaler oder Quartiers-Ebene direkt auf Gewalttaten reagieren, indem sie Täterinnen und Täter auf gewaltfreiem Weg dazu bringen, Verantwortung zu übernehmen und ihr Verhalten zu ändern.

In großem Stil sind solche Freiwilligen-Netzwerke als kompletter Ersatz für die Polizei allerdings noch nirgends getestet worden. Und ob gutes Zureden ohne Androhung von Strafen ausreicht, um Täterinnen und Täter abzuschrecken oder zu einer Verhaltensänderung zu motivieren, kann man bezweifeln.

Die Abolitionisten antworten auf solche Einwände, dass eine komplette Auflösung der Polizei tatsächlich nur dann funktionieren könne, wenn die Gesellschaft als Ganze sich tiefgreifend verändere – dahingehend nämlich, dass Polizei und Gefängnisse nicht mehr nötig sind, weil die Menschen gewaltfrei und einträchtig miteinander leben. Aus diesem Grund sehen die meisten Menschen, die das Thema betrachten, die Forderung nach der Abschaffung der Polizei eher als Utopie.

 

Eine gute Übersicht zum Stand der gegenwärtigen Abolitionismus-Debatte bietet der jüngst erschienene Band:  Loick, D., & Thompson, V. E., Hrsg., Abolitionismus: Ein Reader. Suhrkamp Verlag, 2022. Eine gute Zusammenfassung bietet der Beitrag „Was ist Abolitionismus, Herr Loick? Philosophie Magazin (November 2022) sowie der in der New York Times erschienene Meinungsartikel Kaba, M.: „Yes, We Mean Literally Abolish the Police“.  

 

Inspirierende Fragen

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