Seltene Erkrankungen – Stiefkinder der Medizin

Eva Louise Köhler Eva Luise Köhler ist Schirmherrin der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE) e.V. und Stiftungsratsvorsitzende der „Eva Luise und Horst Köhler Stiftung für Menschen mit Seltenen Erkrankungen“.

Die „Eva Luise und Horst Köhler Stiftung für Menschen mit Seltenen Erkrankungen“ wurde ins Leben gerufen, um Forschungsprojekte zu initiieren, die zur Verkürzung des Diagnosewegs und zur Verbesserung von Therapie, Versorgung und Beratung beitragen. Seltene Erkrankungen zählen noch immer zu den Stiefkindern in Medizin und Forschung. Und das, obwohl Millionen Menschen mit einer Seltenen Erkrankung leben. Seltene Erkrankungen sind keine Rarität, sondern Realität!

Rar ist das Wissen um sie. Das Wörtchen „Seltene“ vor Erkrankungen sorgt bei Betroffenen, ihren Angehörigen und weiteren Unterstützern immer wieder zu Aufklärungsnöten in der Kommunikation anderen gegenüber. Impliziert das Wort doch, dass nur wenige Menschen insgesamt betroffen sind. In Deutschland leben aber schätzungsweise 4 Millionen Menschen mit einer Seltenen Erkrankung, innerhalb Europas geht man von etwa 36 Millionen Betroffenen aus.

Wofür steht also das Adjektiv „Seltene“? Wofür steht also das Adjektiv „Seltene“? Eine Erkrankung gilt gemäß europäischer Definition als selten, wenn nicht mehr als 5 von 10.000 Menschen einer Bevölkerung das spezifische Krankheitsbild aufweisen. Der Status „selten“ kann sich mit der Zeit oder auch regional ändern. Der Sammelbegriff „Seltene Erkrankungen“ oder „orphan diseases“ (verwaiste Erkrankungen) bündelt 6.000 - 8.000 der insgesamt rund 30.000 weltweit bekannten Erkrankungen mit dem Status „selten“.

Etwa 80 Prozent der Seltenen Krankheiten sind genetisch bedingt. Der Anteil der Neugeborenen mit einer (diagnostizierten!) Seltenen Erkrankung liegt bei 3-4%, der Anteil betroffener Kinder, die vor dem 5. Lebensjahr an einer Seltenen Erkrankung versterben, bei 30%.

Unter 50% der Seltenen Erkrankungen manifestieren sich erst im Erwachsenenalter. Ob sich die jeweilige Seltene Erkrankung schon im Kindes- oder erst Erwachsenalter zeigt, für viele dieser Erkrankungen gilt: sie sind lebensbedrohlich oder führen zu Invalidität. Die meisten verlaufen chronisch und fortschreitend: Sie lassen sich noch nicht heilen, die Patienten sind dauerhaft auf ärztliche und anderweitige therapeutische Behandlungen angewiesen. Und der Weg zur Diagnose ist weit.

Durchschnittlich sieben Jahre vergehen bis zur Diagnose. Häufig wird die Diagnosesuche zu einer Odyssee von Arzt zu Arzt und von Klinik zu Klinik - eine lange Zeit der Ungewissheit, des Bangens mit Fehldiagnosen und Falschbehandlungen oder unterlassenen Behandlungen, die häufig zu einer Verschlechterung des Zustands der Betroffenen führen. Nicht selten wird unterwegs der Verdacht einer ursächlich psychischen oder psychosomatischen Erkrankung durch Ärzte geäußert oder eine Anpassungsstörung diagnostiziert oder zu verstehen gegeben, dass sie den Betroffenen für einen Hypochonder halten. Dieser Weg sowie dessen Begleitung erfordert von den Patienten und ihren Familien viel Kraft.

Manchmal kann übrigens trotz hohen Engagements aller am Diagnoseprozess Beteiligten keine Diagnose gefunden werden. Patienten, die schließlich diagnostiziert sind, sind oft erleichtert, dass das, was sie haben oder was ihnen fehlt oder anders in ihrem Körper abläuft, endlich einen Namen hat. Die sich daran anschließende Hoffnung auf Therapie kann bei vielen Seltenen Erkrankungen noch nicht erfüllt werden: zumindest nicht im ursächlichen oder heilenden Sinne. Wirksame Therapien und Medikamente sind rar, es fehlen Spezialisten und interdisziplinäre sektorenübergreifende Behandlungszentren, es gibt zu wenig Erfahrungen im Umgang mit den komplexen Seltenen Erkrankungen im allgemeinen sowie hinsichtlich einer Seltenen Erkrankung im besonderen. Es herrschen Defizite in Form von nicht erhältlicher, zur Verfügung stehender oder verständlicher Information, von mangelnder Kommunikation und Vernetzung und letztlich fehlt es noch an so viel Wissen.

Forschung ist die Suche nach Erkenntnissen im Gegensatz zum zufälligen Entdecken sowie deren systematische Dokumentation und Veröffentlichung. Erkenntnisse, Systematik, Austausch und Zugänglichkeit zu Informationen und Wissen, brauchen wir, um die Stiefkinder „Seltene Erkrankungen“ aus dem Schattendasein holen zu können.

Es besteht Anlass zur Hoffnung für die Seltenen: Mit den vielfältigen Initiativen von Selbsthilfeorganisationen und der ACHSE als ihrem Zusammenschluss, der steigenden Anzahl von Stiftungen, der wachsenden Vernetzung unterschiedlicher Akteure auf nationaler und europäischer Ebene, den durch das BMBF geförderten Forschungsnetzwerken, dem Nationalen Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) und den Vorbereitungen für einen Nationalplan machen wir uns gemeinsam und gestärkt auf den Weg.

Stiefkinder sind Familienmitglieder – Seltene Erkrankungen sind eine gemeinschaftliche, eine gesellschaftliche Aufgabe. Und Menschen mit Seltenen Erkrankungen brauchen unsere breite Unterstützung für einen gleichberechtigten Zugang zu Diagnose, Therapie und Versorgung. Forschung schafft Grundlagen dafür.

 

Weitere Informationen unter:

www.achse-online.de

www.evaluiseundhorstkoehlerstiftung.de