„Auf magische Weise entstand ein roter Faden“

21.07.2022
Kurz und knapp

Wissenschaft trifft auf Kunst, Interessen der Bürgerinnen und Bürger auf ein Netzwerk lokaler Partner und das Theaterpublikum auf Ausdrucksformen, die nur Kunst findet, wenn gemeinsam Antworten gesucht werden. Impulse der Kasseler „Zukunftsdialoge“, einer Diskussionsreihe der Universität Kassel im Rahmen des Wissenschaftsjahres 2022, wurden nun als Inszenierung „Temple of Alternative Histories“ auf die große Bühne des Staatstheaters Kassel gebracht. Nach der Premiere sprechen Gianna Dalfuß von der Universität Kassel und Cordula Kleidt vom Bundesministerium für Bildung und Forschung über Intention und Besonderheiten des Förderprojekts und Lerneffekte für die Wissenschaftskommunikation.

Frau Kleidt, die Wissenschaftsjahre decken seit mehr als zwei Jahrzehnten eine unglaubliche Themenvielfalt ab. Was aber war das Besondere an der Premiere im Staatstheater Kassel, die Sie kürzlich vor Ort erlebt haben?

Cordula Kleidt: Auch Tage nach der Uraufführung von „Temple of Alternative Histories“ bin ich immer noch sehr inspiriert. Erstmalig haben wir die Wissenschaftsjahre thematisch geöffnet und sind damit auch ein Experiment eingegangen. Die transdisziplinäre Arbeit im Projekt „Temple of Alternative Histories“ ist ebenso ein großes Experiment. Das Zusammenspiel von Wissenschaft, bildender und darstellender Kunst, das wir im Staatstheater Kassel erleben durften, war deshalb so beeindruckend, weil alle Beteiligten gemeinsam dieses Gesamtkunstwerk erschaffen haben. Es war kurzweilig, tiefgründig, hat zum Nachdenken angeregt und war tatsächlich mit allen Sinnen erfahrbar. 

Als der IdeenLauf startete, konnten Sie noch nicht wissen, wie und in welchem Umfang die Beteiligung funktionieren würde. Ein Risiko oder hat genau diese Ungewissheit Sie gereizt?

Gianna Dalfuß: Gerade dieses prozesshafte und im besten Sinne ergebnisoffene Vorgehen macht den Charme des Ganzen aus. Natürlich ist das mit Unsicherheiten verbunden. Aus Kassel können wir aber bestätigen, wie interessiert die Bürgerinnen und Bürger sind, mitzureden, sich einzubringen und mitzugestalten. Bereits unsere Bürger:innendialoge im März waren ausgebucht – eine unglaublich schöne Erfahrung für alle Beteiligten! In dem Zusammenhang bleibt mir sicherlich eine Fragenkarte mit einem Dürrenmatt-Zitat in Erinnerung: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“ Für mich fasst das zusammen, worum es geht und woran wir miteinander arbeiten.

Frau Dalfuß, was war und ist das Besondere an der Konstellation, die bei Ihnen dafür gesorgt hat, dass Fragen aus der Bevölkerung die sprichwörtliche große Bühne bekamen?

Dalfuß: Die Scientists for Future und das Staatstheater hatten unter dem Motto „Unser Kassel 2030“ gemeinsam Klima-Gespräche organisiert. Gestreamte Dialogformate, die sehr gut angenommen wurden, existierten also. Gemeinsam mit UniKasselTransfer herrschte dann schnell Einigkeit, das fortzusetzen und um die künstlerische Verarbeitung zu erweitern. Wenn sich, wie hier geschehen, immer alle ergänzen, kann auf magische Art und Weise ein roter Faden entstehen. Das „humming“ zum Beispiel, gemeinschaftsstiftendes Summen aus den Bürgerdialogen, ist auch der Einstieg im Theater, um sich aufeinander einzustimmen.

Kleidt: … so waren wir Zuschauerinnen und Zuschauer nicht nur dabei, sondern Teil des Geschehens. Das Partizipative hat sich übrigens in der Wissenschaftskommunikation insgesamt weiterentwickelt. An dem Abend ist es eindrucksvoll deutlich geworden.

Noch stehen einige Vorstellungen an. Was bleibt für Sie, wenn der berühmte Vorhang fällt – auch über das Wissenschaftsjahr 2022 hinaus?

Kleidt: Ich wünsche mir, dass so ein Wissenschaftsjahr über das Kalenderjahr hinauswirkt. Und wir sehen ja im Stück von Thorleifur Örn Arnarsson auch starke Bezüge zum vorherigen Wissenschaftsjahr Bioökonomie. Das Bühnenbild und die Kostüme machen deutlich, dass Kreislaufwirtschaft und Upcycling längst keine Nebenrolle mehr spielen. Mit vorhandenem Material aus dem Fundus des Staatstheaters werden Vergangenheiten, Gegenwarten und Zukünfte miteinander verwoben und treten in Beziehung. Wie auch im Foyer des Staatstheaters die eindrucksvolle Installation der Künstlerin Anna Rún Tryggvadóttir einen guten Ort der Begegnung und des Dialogs bietet. Wir wollen mit den Wissenschaftsjahren genau solche Experimentierräume und Begegnungsorte für Dialog und Austausch von Perspektiven schaffen.

Dalfuß: Nur, wenn alle Beteiligten lernen, Unwägbarkeiten bei transdisziplinärer Zusammenarbeit auszuhalten und ihre Komfortzone zu verlassen, entsteht ein neuer, gemeinsamer Weg. Für mich reicht diese Message weit über bestimmte Wissenschaftsjahr-Themen hinaus.

Was kann die Kommunikation von Wissenschaftsthemen von der Kunst lernen oder zumindest an Inspiration mitnehmen?

Kleidt: Für mich ist Kunst eine ganz große Chance, die Tragweite wissenschaftlicher Fakten erfahrbar zu machen. Bei den drängenden Fragen unserer Zeit, gerade dem menschengemachten Klimawandel, ermöglichen künstlerische Expeditionen ein ganz anderes Verständnis von Zahlen, Schaubildern und Zusammenhängen.

Dalfuß: Kunst ist nicht nur Vermittler oder Dienstleister. Insbesondere im Bereich der Vermittlungsmethoden ergeben sich durch die Beteiligung von Kunst neue Ansätze wie z.B. das kollektive Summen, das ich erwähnte. Es bringt Besucherinnen und Besucher umgehend in eine aktive Rolle und wirkt gemeinschaftsstiftend.

Upcycling und Kreislaufwirtschaft wurden als erfahrbare Bezüge zur Bioökonomie genannt. Wie könnte Kunst auch kommende Wissenschaftsjahre prägen?

Kleidt: Im nächsten Wissenschaftsjahr geht es um „Unser Universum“. Schon heute kann ich mir da ganz viele spannende, ko-kreative Produktionen vorstellen und bin gespannt auf das, was entstehen wird. Alle Wissenschaftsjahre, nicht nur das kommende, können von jenem fruchtbaren Zusammenwirken von Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft profitieren, wie wir es derzeit in Kassel erleben.