„Bienensprech“ verstehen

11.07.2022
Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Jürgen Tautz, Universität Würzburg

Im Teilen von Information liegt das Erfolgsgeheimnis von Gemeinschaften. Das gilt auch für staatenbildende Insekten. Berühmt ist die Tanzsprache der Honigbienen. Ein altes Modell dazu ist einfach zu verstehen, aber trifft es auch zu? Folgt man den nahezu 100 Jahre langen Spuren der Erforschung dieses Verhaltens, kann man für sich selbst entscheiden, ob ein neues Modell das alte ersetzen sollte. Noch ist ausschließlich das alte Modell zu finden.

Die Tanzsprache der Honigbienen – das alte Modell

Seit mehr als einem halben Jahrhundert lernen Schulkinder im Biologieunterricht über die Tanzsprache der Honigbienen das Folgende: Hat eine Sammelbiene eine Quelle an Nektar und Pollen entdeckt, kehrt sie in den dunklen Stock zurück und teilt durch den Schwänzeltanz die Richtung und Entfernung zu diesem Ziel mit. Andere Sammelbienen, die den Tänzen gefolgt sind, nutzen deren Angaben und fliegen zum beworbenen Ziel. Für seine Arbeiten zu diesem Rekrutierungsverhalten erhielt der Forscher Karl von Frisch 1973 einen Nobelpreis.

 

Aber: Beobachtungen machen Probleme, Hilfshypothesen sollen retten

Konkrete Beobachtungen bereiten diesem Modell der Tanzsprache Probleme. Hier drei Beispiele und die zur Stützung des alten Modells formulierten Hilfshypothesen:

1. Tänze, die ein bestimmtes Ziel bewerben, machen ungenaue Angaben. Tatsache ist aber, dass die rekrutierten Bienen an einem „bierdeckelkleinen“ beworbenen Ziel in bis zu 10 Kilometern Entfernung eintreffen. Die Lösung: Es wird die Hypothese aufgestellt, dass die Rekruten aus den Mittelwerten unterschiedlicher Tänze das Ziel bestimmen.

2. Bienen „messen“ zurückgelegte Entfernungen mit ihrem Sehsinn. Der beim Flug auftretende „optische Fluss“ wird im Tanz in die Dauer der Schwänzelstrecke übersetzt. Der „optische Fluss“ hängt von der Beschaffenheit der Landschaft ab, in der die Biene fliegt. Damit die landschaftsabhängige Schwänzeldauer als Entfernungsmaß brauchbar ist, wird die Hypothese aufgestellt, die Rekruten flögen genau die gleiche Strecke und Flughöhe wie vorher die Tänzerin, da nur so für Tänzerin und Rekrutin der gleiche „optische Fluss“ entsteht.

3. Sammelbienen „betanken“ sich vor dem Aufbruch zu einem Ziel, dessen Entfernung sie kennen, mit einer der Flugstrecke angepassten Menge an Honig. Rekruten, die nach einer Tanzverfolgung zum beworbenen Ziel aufbrechen, „übertanken“ sich um das 2-3-fache. Das spricht nicht dafür, dass sie dem Tanz eine zutreffende Entfernungsangabe entnommen haben. Eine Hilfshypothese zur Einpassung in das alte Modell gibt es hierzu bisher nicht.

 

Das neue Modell – Anleihe bei der Vogelforschung

Zugvögel können aus ihrem Winterquartier auf der Südhalbkugel zurückkehrend exakt am alten Nest des Vorjahres eintreffen. Diese Navigationsleistung beruht auf drei aufeinanderfolgenden Stufen: 1. Ein anfänglicher Flug in der grob richtigen Richtung. 2. Eine Suchphase, in der auf unterstützende Zeichen und Signale gestoßen wird. 3. Der gerichtete Anflug des Zieles, geleitet durch Zielführungshilfen.

Übernimmt man dieses Modell für die Rekrutierung bei Honigbienen, fallen Hilfshypothesen weg und lösen sich Widersprüche auf. Der „Tanzsprache“ bleibt dann die Funktion, rekrutierte Bienen in eine Region zu schicken (Stufe 1), in der sie auf Düfte von Blüten und die erfahrenen Bienen treffen, die im Stock getanzt haben (Stufe 2), die sie zum Ziel bringen (Stufe 3).

 

Testfall „Bienensprech“: Jeder kann ein Wissenschaftler sein

Welches der beiden Modelle bildet das Bienenverhalten am besten ab? Welche Beobachtungen sprechen für das eine oder für das andere Modell?

Bausteine naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinns, wie Beobachtungen, Experimente, Daten, Argumente, Hypothesen und Theorien, lassen sich mit einer vergleichenden Betrachtung von Für und Wider beider Modelle zum „Bienensprech“ als eine Fallstudie im Unterricht konkret durchspielen und erlauben so auch, wissenschaftliches Denken nachvollziehen.
 

Die hier veröffentlichten Inhalte und Meinungen der Autorinnen und Autoren entsprechen nicht notwendigerweise der Meinung des Wissenschaftsjahres 2022 – Nachgefragt!​

 

Weiterführende Information

Diese Infografik zeigt das alte und das neue Modell zur Funktion des Bienentanzes in der Kommunikation bei Honigbienen. 

https://ethologisch.de/die-sprache-der-bienen/

https://uepo.de/2022/05/19/prof-dr-juergen-tautz-zur-sprache-der-bienen-der-schwaenzeltanz-wird-bis-heute-ueberschaetzt/

Vita

Prof. Dr. Jürgen Tautz ist Insektenforscher, Bienenexperte, Verhaltensforscher und Professor i. R. am Biozentrum der Universität Würzburg. Er ist Bestsellerautor mit Büchern, die in bis zu 20 Sprachen übersetzt wurden, Berater für abendfüllende Filmprojekte und national sowie international mehrfach ausgezeichnet für die gelungene Vermittlung von Wissenschaft an eine breite Öffentlichkeit.