Demokratische Technikgestaltung

08.12.2022
Ein Beitrag von Prof. Dr. Jörn Lamla, Universität Kassel

Neue Technologien ermöglichen soziale Innovationen, wenn sie auf praktische Probleme der Gesellschaft antworten. Dabei kommen verschiedene Kriterien der Bewährung zum Tragen, die unterschiedliche Urteilsprinzipien beinhalten. Nicht nur Agilität und Effizienz, auch Fragen der Fairness und Zukunftssorge sind relevant. Ihre Einbeziehung kann nur dann umfassend gelingen, wenn Technologie und Demokratie nicht gegeneinander ausgespielt, sondern zu Verfahren demokratischer Technikgestaltung verschränkt werden.

Gesellschaftliche Innovationen haben aus soziologischer Sicht verschiedene Seiten, die in ihrem Zusammenspiel betrachtet und verstanden werden müssen. Keineswegs geht es nur um neue Ideen, Verhaltensweisen, Produkte, Moden oder Technologien. Diese sind zwar wichtig. Oft bleiben sie aber im Alten verhaftet und weit davon entfernt, gesellschaftliche Innovationen auszulösen. Denn dafür müssen Innovationsangebote in die soziale Praxis abfließen. Hierfür aber gibt es Bedingungen, die nicht in den Eigenschaften neuer Angebote, Kulturinhalte oder Verhaltensrepertoires selbst, sondern in den Handlungsproblemen wurzeln, die in der Gesellschaft virulent sind. Erfolgreich und wichtig sind Innovationen, die Lösungen für vertrackte Situationen bieten, für deren Handlungsanforderungen es noch keine etablierten Umgangsformen oder nur solche gibt, die als unzureichend erlebt werden. Das können Krisen wie die schleichende Klimaerwärmung, aber auch sporadischer auftretende Probleme des individuellen Alltagslebens sein.

 

Pluralität von Beurteilungsgesichtspunkten

Technologische Innovationen müssen folglich auf Belange der sozialen Praxis Acht geben, also auch auf die Probleme und Bedürfnisse, die sich darin zeigen. Die Frage ist, wie Lernprozesse in diesem Wechselspiel verbessert werden können und welche Beurteilungsmaßstäbe dabei anzulegen sind. Effizienz und Schnelligkeit kommen in den Sinn, wenn Kosten zu begrenzen oder Handlungsprobleme sehr drängend sind. Gründlichkeit und Fairness sind aber nicht weniger wichtig, wenn neue Technologien sich gesellschaftlich als Lösungen bewähren, auf ihre Nebenfolgen hin reflektiert und sozial möglichst inklusiv ausgerichtet werden sollen. Verfahren und Methoden der Technikgestaltung und Technikfolgenabschätzung wollen darauf eine Antwort geben.

 

Digitale Feedbackschleifen?

Angesichts der starken Ausweitung digitaler Medien und Rechenkapazitäten nehmen hierbei agile Vorgehensweisen und datenbasierte Feedbackschleifen stark zu. Wie beim Trainieren der Künstlichen Intelligenz werden Neuerungen nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum ausgebreitet und mit der Erfassung und Auswertung von Verhaltensdaten über die Nutzung in Echtzeit verbunden, um so gesellschaftliche Akzeptanzwerte schon in die Technikentwicklung einzubeziehen. Damit droht aber die Gefahr, gesellschaftliche Innovationsprozesse technokratisch zu verkürzen. Denn als Innovation kann sich so alles bewähren, was zur Etablierung von neuen Routinen und Verhaltensmustern taugt. Die Beurteilung der gesellschaftlichen Relevanz von Bedürfnissen und Problemaspekten wird dabei nachrangig. Sie wird in die Black Box von Vorentscheidungen und Nutzungsvorlieben verschoben. Auf einen wesentlichen Aspekt gesellschaftlicher Innovation wird dann aber gerade verzichtet.

 

Demokratie als kritische Innovationsinstanz

Dieser Aspekt kommt erst in den Blick, wenn berücksichtigt wird, dass Technologien Werte und Normen festschreiben. Diese sind aber selten klar, zeitstabil und unstrittig. Vielmehr sind sie oft widersprüchlich, konfliktbehaftet und damit selbst Bestandteil jener Problemkonstellationen, die eine Suche nach innovativen Lösungen motivieren. Daher greifen Prozesse der Technikgestaltung zu kurz, die nur auf die faktische Akzeptanz von Technologien zielen und nicht auch nach der Akzeptabilität der darin enthaltenen Bewertungsgesichtspunkte fragen. Akzeptabilität von Innovationen meint hierbei Prüfungen ihrer Zustimmungsfähigkeit, wie sie nur durch Verfahren der Kritik, Argumentation und Begründung geleistet werden können. Urteilsbildungen dieser Art in Innovationsprozesse einzubeziehen, erfordert Verfahren demokratischer Prüfung, Beteiligung und Diskussion. Diese lassen sich zu einem Teil an Parlamente, Gerichte oder Kommissionen delegieren. Ohne breite Einbeziehung aber bleiben auch deren Sichtweisen, Standpunkte und Kompromisse mit Erfolgsungewissheiten der Praxis behaftet. Um folglich Beurteilungen der Bedürfnisse von Menschen in agile Prozesse innovativer Technikgestaltung einzubeziehen, muss deren kritische Urteilskompetenz selbst durch demokratische Beteiligungsverfahren trainiert und kultiviert werden.

Die hier veröffentlichten Inhalte und Meinungen der Autorinnen und Autoren entsprechen nicht notwendigerweise der Meinung des Wissenschaftsjahres 2022 – Nachgefragt!​

 

Weiterführende Informationen:

Ansätze zur Verschränkung von Akzeptanz und Akzeptabilität in der Technikgestaltung finden Sie hier

Weiterführende Informationen zur Zukunft der kritischen Beurteilungskompetenzen gibt es hier.

Lernen Sie hier das Fachgebiet Soziologische Theorie an der Universität Kassel kennen.

Eine Stellungnahme zum Verhältnis von Digitalisierung und Demokratie ist hier zu finden.

Vita

Prof. Dr. Jörn Lamla ist Inhaber der Professur für Soziologische Theorie an der Universität Kassel. Er ist dort zugleich Direktor im Wissenschaftlichen Zentrum für Informationstechnik-Gestaltung (ITeG). Aktuelle Arbeitsschwerpunkte gelten der Gerechtigkeits- und Demokratieforschung, der Politischen Soziologie der Konsumgesellschaft, der privaten Lebensführung in digitalen Welten sowie Theorieentwicklungen im Umfeld der Science and Technology Studies.