Haben Gefühle eine Geschichte? Und wenn ja, welche?

03.08.2022
Ein Gastbeitrag von Dr. Agnes Anna Arndt, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin

Gefühle haben nicht nur eine Geschichte, sie gestalten sie auch und sind damit ebenso fordernde wie fördernde Bestandteile politischer Partizipation und demokratischer Willensbildung. Die Geschichte der Gefühle analysiert den Wandel des Ausdrucks von und des Umgangs mit Gefühlen und zeigt – es gab sie schon immer, sie waren nie statisch und ihre Erforschung ist notwendig und spannend.

Ob Gefühle tatsächlich eine Geschichte haben, ist eine Frage, die mir oft gestellt wird. Ich mag diese Frage, und ich finde sie außerordentlich wichtig, signalisiert sie doch zugleich Neugier und Verwunderung und führt mitten hinein in die Geschichte der Gefühle. Hätte man einen Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts auf ähnliche Weise über seine Tätigkeit befragt – schießt mir durch den Kopf –, und hätte er sich auch über die Neugier des Fragenden gefreut? Oder hätte er sich unwohl gefühlt angesichts der Direktheit, mit der die Fragenden ihr Erstaunen gegenüber seinem Forschungsansatz zum Ausdruck bringen? Vielleicht hätte er nicht Wissbegehren seitens der Fragenden, sondern ein leichtes Misstrauen gegenüber seinem Forschungsgegenstand herausgehört? Wie hätte er wohl reagiert? Und welche Empfindungen und Emotionen hätte seine Antwort preisgegeben?

 

Gefühle haben und gestalten Geschichte

Die Geschichte der Gefühle ist eine noch verhältnismäßig junge, aber mittlerweile fest etablierte Disziplin, die spannende Einsichten in die Gefühlswelten vergangener Epochen zu Tage fördert. Denn Gefühle sind nicht statisch. Sie verändern sich im Laufe der Zeit, sie werden kulturell geformt, sozial erlernt und politisch eingesetzt.  Was sich ändert, ist nicht nur der Ausdruck dieser Gefühle, sondern auch ihre Rolle und Relevanz in unterschiedlichen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zeiten und Räumen. Gefühle haben insofern nicht nur eine Geschichte, sie gestalten sie auch. Sie nehmen Einfluss auf zwischenmenschliche Beziehungen, auf ökonomische Entscheidungen und politische Entwicklungen. Unterschiedliche emotionale Stile, Praktiken und Normen erzeugen eine Vielfalt an tatsächlich gelebten und historisch erforschbaren Gefühlen. Diese werden von Institutionen wie Staat, Verwaltung, Justiz, Militär, Kirche und Familie geprägt. Und sie wirken ihrerseits auf diese Institutionen zurück, fordern und verändern diese. Das wiederum macht die Erforschung der Gefühle ebenso aufschlussreich wie notwendig. Denn die Wechselwirkung zwischen Emotionen und Institutionen ist auch anfällig für Missbrauch und Manipulationen.

 

Politik mit Gefühl ist kein Phänomen der Gegenwart

Die Geschichte der Gefühle untersucht, wann Gefühle der Angst oder des Hasses politisch befeuert wurden, wann Zuversicht und Vertrauen in die Zukunft propagiert wurden, wann Emotionen dem Erreichen politischer oder ökonomischer Ziele untergeordnet und zu diesem Zweck bewusst manipuliert und mobilisiert wurden. Politik mit Gefühl ist kein Phänomen der Gegenwart, vielmehr zeigt die historische Analyse, dass Empfindungen und Emotionen schon immer Einfluss auf die Geschichte nahmen. Im besten aller Fälle flossen Gefühle in die politische Partizipation der Bürger ein, wurden ausgesprochen, wahrgenommen, ernst genommen. In anderen Fällen, nicht nur in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, wurden sie unterdrückt und bekämpft. Auch in zeitgenössischen Demokratien spielen die Verhandlung und Vermittlung unterschiedlicher Gefühle eine zentrale, die Öffentlichkeit, die Politik und die Bürger immer wieder herausfordernde Rolle.

 

Nicht eine, sondern viele Geschichten der Gefühle

Es gibt insofern nicht eine, sondern viele Geschichten der Gefühle. Sich diesem Feld mit klugen Fragen zu nähern, sich je nach Gebiet, mit dem man sich beschäftigt, auch seine eigenen Gefühle bewusst zu machen, das sprichwörtliche Einfühlungsvermögen, aber auch die unerlässliche kritische Distanz zum Gegenstand und Thema aufzubringen, ist für mich als Historikerin Anforderung und Herausforderung zugleich. Die Fragen, die im Wissenschaftsjahr 2022 gestellt werden, sind ebenso willkommen wie elementar, denn sie erinnern daran, dass Forschung eingebettet ist in Gesellschaft und dass sie angewiesen bleibt auf deren Kritik und Interesse. Auch Forschungszugänge und -erkenntnisse erzeugen Gefühle, machen Geschichte und werden irgendwann Gegenstand historischer Untersuchungen werden. Die Fragen der Bürgerinnen und Bürgern helfen, sich dies in Erinnerung zu rufen und über die Relevanz eigener Themen und Thesen unter immer wieder neuen Gesichtspunkten nachzudenken.


Die hier veröffentlichten Inhalte und Meinungen der Autorinnen und Autoren entsprechen nicht notwendigerweise der Meinung des Wissenschaftsjahres 2022 – Nachgefragt!​
 

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Vita

Dr. Agnes Anna Arndt studierte Neuere und Neueste Geschichte, Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft in Berlin und Florenz und wurde 2012 an der Freien Universität Berlin promoviert. Sie war Gerald D. Feldman Fellow an den Deutschen Historischen Instituten in Warschau, Paris und London, Projektmanagerin am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und ist derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungsbereich Geschichte der Gefühle des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin. Arndt forscht zur Sozial-, Politik- und Kulturgeschichte des Ökonomischen vom 18. bis zum 21. Jahrhundert und ist Autorin zahlreicher Monographien und Aufsätze, die unter anderem mit dem Preis des Botschafters der Republik Polen und der Polnischen Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet wurden.