„KI ist dazu da, angewendet zu werden.“

26.04.2022
Kurz & knapp

Am Anfang stand die Frage nach dem hilfreichen Einsatz von Künstlicher Intelligenz: Der heute 18-jährige Tamas Nemes entwickelte mit dem GUIDE-Walk ein tragbares, KI-getriebenes Leitsystem für blinde und sehbehinderte Menschen, das bei der Navigation im Straßenverkehr helfen soll. Wie genau er auf die Idee kam, wie sich die Entwicklung gestaltete und welche Pläne er für die Zukunft hat, erklärt er im Interview.

Herr Nemes, können Sie uns kurz erklären, wie der GUIDE-Walk 2.0 funktioniert?

Gern! Man kann sich das vorstellen wie eine Box, die man sich um den Hals hängt. Diese Box hat eine kleine Kamera verbaut, die durchgehend Bilder von der Umgebung aufnimmt. Die Bilder werden zu einem Mikrocomputer in der Box geschickt und dort von einer von mir trainierten Künstlichen Intelligenz verarbeitet, um darin Objekte zu erkennen, die für den blinden oder sehbehinderten Träger relevant sein könnten: potenziell gefährliche Hindernisse wie Fußgänger, Autos oder Radfahrer, aber auch rote und grüne Fußgängerampeln oder Mülleimer und Parkbänke. Diese Informationen werden gesammelt und über einen besonderen Kopfhörer in Form von Audiowarnungen an den Träger weitergegeben. Das heißt: Im Gerät befindet sich eine digitale Assistentin, so wie Siri oder Alexa, die den Träger darüber informiert, was auf ihn oder sie zukommt.
 

Sie waren 15 Jahre alt, als Sie mit der Entwicklung des GUIDE-Walks begonnen haben. Wie sind Sie darauf gekommen?

Da gibt es natürlich eine Vorgeschichte, die Idee kam mir nicht einfach so. Ein zentrales Ereignis war, dass ich mit meiner Mutter – sie arbeitet nebenberuflich als Dolmetscherin – an einer Inklusionskonferenz unserer Stadt teilgenommen habe. Dort konnte ich Kontakte zu einigen blinden und sehbehinderten Menschen knüpfen. Und als diese mir von den alltäglichen Herausforderungen im Straßenverkehr berichteten, habe ich gedacht: Vielleicht könnte man da mit KI unterstützen. Ich habe mich in der Vergangenheit schon mit KI beschäftigt, weil mich das Thema interessiert. Und über die Gespräche kam ich auf die Idee, dass man die zwei Welten doch verknüpfen könnte.


Am Anfang stand also das Alltagsproblem der Inklusion und Sie haben sich gefragt, wie Sie mit Ihren Fähigkeiten weiterhelfen können.

Das kann man so sagen, ja. Wenn man sich mit KI beschäftigt, muss man sich immer Anwendungsgebiete suchen – denn KI ist dazu da, angewendet zu werden. Ich selbst kannte sowas in der Art noch nicht. Die Betroffenen, mit denen ich gesprochen habe, sagten mir, dass es sehende Assistenzsysteme schon gibt. Allerdings sind sie entweder nicht für den Straßenverkehr ausgelegt oder sie sind sehr teuer und werden nicht von der Krankenkasse übernommen. Und diese Probleme wollte ich mit meinem Gerät angehen.
 

Wie sind Sie von der Idee in die Startphase der Umsetzung gekommen?

Ein leichter Prozess war das nicht. Ich hatte schon gutes Grundwissen in KI, aber was die Hardware betraf – löten, Sensoren und dergleichen –, davon hatte ich keine Ahnung. Und es war auch ein längerer Prozess, sich da reinzufinden. Angefangen hat es eigentlich mit Gesprächen zwischen mir und Betroffenen. Ich habe nach ihren Meinungen und Tipps gefragt: Welche Funktionen wünschen sie sich am meisten, was fehlt ihnen zurzeit noch. Da kamen schon mal viele Ideen zusammen. Und alles Weitere war viel selbst experimentieren.
Ich habe mir außerdem Hilfe von Leuten geholt, die sich im technischen Bereich besser auskennen. Zum Beispiel von einem befreundeten Elektrotechnik-Studenten und einem Professor, der sich ganz allgemein mit Assistenzsystemen für behinderte Menschen beschäftigt. Ich hatte also immer Ansprechpartner. Aber alles, was die Ausarbeitung betrifft, war Eigenwerk, experimentieren, Wissen sammeln.
 

Wie kann man sich Ihren Alltag in dieser Zeit vorstellen? Vormittags Schule, nachmittags löten und programmieren? Blieb da noch Zeit für anderes?

Das war gar nicht so spektakulär. Immer, wenn ich nachmittags oder an den Wochenenden Zeit gefunden habe, habe ich mich ein paar Stunden hingesetzt. Es hat mir ja Spaß gemacht! Besonders im IT-Bereich kommt es hin und wieder vor, dass man frustriert ist und erst mal alles ein Weilchen beiseitelegt und etwas anderes macht. Der Entwicklungsprozess streckte sich bei mir ja über zweieinhalb Jahre. Ein großer Teil meiner Freizeit ging in den GUIDE-Walk, ja, aber sicher nicht meine gesamte. Und als Schüler einer Chorschule habe ich auch chorische Tätigkeiten, Aufführungen, Veranstaltungen. Das hilft auch, auf andere Gedanken zu kommen.
 

Sie stehen gerade kurz vor dem Abitur. Wie geht es in Zukunft weiter? Tüfteln Sie weiter am GUIDE-Walk oder gehen Sie erst mal andere Sachen an: Studium, Ausbildung, Seele baumeln lassen …?

Alles davon (lacht). Für die Zukunft bin ich auf jeden Fall entschlossen, eine 3.0-Version zu entwickeln – im jetzigen Stadium ist das Gerät nicht ganz alltagstauglich oder produzierbar. Das ist mein langfristiges Ziel: den GUIDE-Walk alltagstauglicher zu machen. Wetterfest und vor allem kleiner, sodass man ihn vielleicht in Accessoires wie eine Brille integrieren könnte. Und ich will Informatik studieren – ich denke, das lässt sich gut kombinieren, und ich hoffe, dass über das Studium weitere Erkenntnisse und Bekanntschaften kommen, die mir beim Umsetzen helfen.
 

Haben Sie einen Rat oder Empfehlungen an junge Menschen, die auch etwas bewegen wollen?

Ich würde sagen: Man sollte sich schon für sein Thema interessieren, sonst ist es kontraproduktiv. Aber am wichtigsten ist, denke ich, sich selbst kennenzulernen. Viel zu probieren und herauszufinden, was man gern macht. Da gibt es etwas für jeden von uns und das muss nicht mal etwas Wissenschaftliches sein. Und wenn man etwas verändern will und sich fragt, wie man am besten anfängt, lohnt es sich aus meiner Sicht, mit den Grundlagen und kleinen Sachen zu beginnen. Zum Beispiel: programmieren zu lernen und sich erst mal mit der Mathematik von KI vertraut machen. Da kann man dann schon erahnen: Ist das was für mich, kann ich da dranbleiben. Und: Ein Repertoire aus Fachkanälen hilft. Blogs, wissenschaftliche YouTube-Kanäle – auch im fremdsprachigen Bereich. Denn nicht alles, was man braucht, lernt man in Schulbüchern.

 

Weitere Informationen:

Mehr Informationen zum GUIDE-Walk 2.0 gibt es hier und auf Instagram.

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GUIDE-Walk 1

GUIDE-Walk 2

Vita

Tamas Nemes ist 18 Jahre alt, lebt in Regensburg und macht derzeit Abitur. Mit dem GUIDE-Walk trat er zweimal bei „Jugend forscht“ an, zuletzt 2021 mit der Version 2.0, für die er unter anderem mit dem „Preis für eine Arbeit auf dem Gebiet der Technik“ ausgezeichnet wurde.