Krise über Krise – und jetzt?

22.11.2022
Ein Beitrag von Prof. Dr. Jutta Heller

Die Nachrichten der letzten Jahre vermitteln den Eindruck, dass nichts als Krise passiert. Erst hat die Corona-Pandemie uns alle überrascht. Gleichzeitig hat sie die Dringlichkeit der Klimakrise deutlich gemacht: Krankheiten werden durch Tiere übertragen, weil ihr Lebensraum systematisch zerstört wird; CO2-Werte bessern sich schlagartig, wenn während eines Lockdowns für einige Monate kein Flugzeug-Kerosin mehr in die Luft gelangt; etc. Und als wir noch dabei waren, die Pandemie, die Klimakrise und ihre Folgen geistig zu verarbeiten, hat uns das bis dahin undenkbare Szenario eines Kriegs in Europa kalt erwischt. Und wir fragen uns: Wie können wir denn weitermachen in so einer Welt?

Resilienz als Antwort auf die Krise

An vielen Stellen lese ich, die Antwort darauf sei Resilienz. Der Begriff wird ja, gerade seit eine Krise auf die andere folgt, inflationär gebraucht. Da ist die Rede von der resilienten Gesellschaft, resilienten Ökosystemen, Strom-Resilienz oder einer staatlichen Resilienzstrategie. Manchmal sind das nur modische neue Bezeichnungen für Konzepte, die es schon vorher unter anderem Namen gab (Katastrophenschutz zum Beispiel), manchmal sind es Erklärungsversuche für sehr komplexe Prozesse, in denen sich verschiedene Fachrichtungen von Soziologie über Biologie bis Psychologie treffen. Deswegen ist es wichtig, genau hinzusehen, was mit "Resilienz" im jeweiligen Kontext genau gemeint ist. Wenn ich von der individuellen Resilienz spreche, dann sind das persönliche Strategien, um auch in Krisenzeiten denk- und handlungsfähig zu bleiben und einen Weg durch die Krisen zu finden, ohne zu verzweifeln. Ich definiere Resilienz kurz zusammengefasst als „Innere Regulationskompetenz“, um im Außen flexibel bzw. situationselastisch agieren zu können – also im Rahmen der Möglichkeiten das Beste aus einer Situation zu machen. Und diese individuelle Resilienz erleichtert uns das Navigieren durch die aktuellen Krisen.

Ganz neu sind solche Multi-Krisen-Zeiten, die unsere Resilienz fordern, ja nicht. Anfang der 1980er-Jahre, als sich zu Hochzeiten des Kalten Krieges auch noch das Reaktorunglück in Tschernobyl ereignete, waren die Gefühle bei vielen ähnlich düster. Wahr ist aber auch: Die aktuellen Krisen wirken sich spürbarer auf unser Leben aus und beeinflussen unser Denken und Handeln. In vielen Bereichen müssen wir uns den veränderten Bedingungen anpassen: Weniger heizen, weniger konsumieren, weniger fliegen. Und oftmals ist es genau dieser Verzicht, der uns das Akzeptieren der Umstände so schwer macht und den Blick auf bessere Zeiten, die sicher wieder kommen werden, verstellt. Aber warum eigentlich fällt es uns so schwer, uns heute ein wenig einzuschränken, obwohl wir wissen, dass es unserem Wohlergehen in der Zukunft dient?

 

Verzicht vs. Freiheit

Zum Teil liegt das sicherlich daran, dass dieser Verzicht nicht frei gewählt ist, sondern sich erzwungen anfühlt. Denn in anderen Bereichen verzichten wir doch auch auf viele Dinge, weil wir wissen, dass es auf lange Sicht gut für uns ist: Viele Menschen lassen das letzte Glas Wein weg, weil sie bereits wissen, dass es ihnen dann morgen besser geht. Viele achten beim Einkauf auf saisonale und möglichst unverpackte Lebensmittel, um das Klima zu schützen. Viele machen mit den Kindern Hausaufgaben statt zu spielen, weil sie sich eine gute Zukunft für sie wünschen. Diese Entscheidungen sind das Ergebnis einer gesunden Zukunftsorientierung (siehe Resilienzschlüssel Zukunftsorientierung), und weil solche "Verzichte" frei gewählt sind, fühlt es sich richtig gut an, sie in die Tat umzusetzen. Es kann sogar ein tief erfüllendes Gefühl sein, wenn man entdeckt, dass Verzichten auch bedeutet: sich von äußeren Zwängen freizumachen, nicht konsumieren zu "müssen", sich nicht dem sozialen Druck beugen zu "müssen". Ganz sicher fällt es denjenigen Personen, die schon lange aus Umweltschutzgründen Strom und Gas sparen, leichter, sich jetzt an die allgemeinen Einschränkungen anzupassen.

Es lohnt sich, bei einem Gefühl des Verzichts mal genauer hin zu schauen und erzwungene Einschränkungen als Anstoß für freiwillige Änderungen zu sehen. Die hohen Benzinpreise? Ich wollte eh schon lange wieder mehr Rad fahren und den Lauf der Jahreszeiten direkter und intensiver wahrnehmen. Die gestiegenen Lebensmittelpreise? Zeit, um meine Ernährungsgewohnheiten zu überdenken und wieder mehr zuhause aus unverarbeiteten Lebensmitteln selbst zu kochen. Letztendlich geht es bei dem Umgang mit den spürbaren Auswirkungen von Weltkrisen auf unser Alltagsleben um eine veränderte Einstellung. Auf etwas verzichten: Das trifft uns eigentlich nur deswegen so hart, weil wir gewohnt sind, dass alles im Überfluss vorhanden ist. Für alle Generationen vor uns bedeuteten 2° weniger im Wohnzimmer nicht so sehr einen frei gewählten Verzicht auf etwas, sondern ein Anpassen an die Gegebenheiten, weil eben nicht mehr Ressourcen da waren.

 

Gemeinschaft macht resilient

Man kann diese erzwungene Verknappung also als Verlust an Lebensqualität auffassen und eifersüchtig darauf achten, dass auch alle anderen ihren Teil zum allgemeinen Sparen beitragen. Man kann damit aber auch anders umgehen und sie als Chance begreifen, gemeinsam das Beste daraus zu machen. Wenn sich alle Freund:innen und Bekannte im Umkreis Gedanken über die steigenden Strom- und Gaspreise machen und nach Wegen suchen, wie sie mit einem kalten Winter umgehen können: Wäre es da nicht die beste Idee, sich zusammenzutun und jede/r steuert bei, was er/sie kann?  Die einen haben einen Kamin, mit dem sie auch Brotbacken können, die nächsten haben Feuerholz gehortet, und vielleicht gibt es noch jemanden mit einer Solaranlage auf dem Dach, die unabhängig Strom produziert, wodurch Computer und Internet genutzt werden können. Auf diese Weise schaffen wir es im Kleinen, Abhängigkeiten zu reduzieren. Viele überlegen gerade, wie sie möglichst selbstständig für sich sorgen können. Diese Idee einer weitestgehenden Selbstversorgung ist gerade jetzt attraktiv, weil unsere Abhängigkeiten von Zulieferern und Rohstoffen so deutlich werden. Für sich zu sorgen, im materiellen wie im mentalen Sinn, stärkt die eigene Resilienz, um mit unerwarteten und auch erwartbaren Schwierigkeiten umgehen zu können. Und dazu gehört auch ein Netzwerk an Beziehungen zu Freundinnen, Bekannten, Familie, das wir alle uns freiwillig geschaffen haben und auf das wir in schwierigen Zeiten auch unbedingt zurückgreifen sollten (siehe Resilienzschlüssel Netzwerkorientierung). Abhängigkeiten reduzieren führt nämlich nicht automatisch zu Egoismus, sondern kann und sollte eben auch zu einer Rückbesinnung auf Gemeinschaft und gegenseitiges Helfen führen.

Das ist denn auch meine Antwort auf die Frage vom Anfang, wie wir uns in einer Welt voller Krisen verhalten sollten: Indem wir auf uns achten, um stark zu bleiben auch angesichts schwierigerer Zeiten, und indem wir auf andere achten, um gemeinsam Lösungen zu finden und eine lebenswerte Zukunft für uns alle zu schaffen.

Die hier veröffentlichten Inhalte und Meinungen der Autorinnen und Autoren entsprechen nicht notwendigerweise der Meinung des Wissenschaftsjahres 2022 – Nachgefragt!​

 

Mehr zu Jutta Heller und ihrer Arbeit finden Sie hier. Ihr Resilienz-ABC können Sie hier kennenlernen.

Online finden Sie weitere Informationen zum Thema „Verzichten muss man lernen“.

Vita

Prof. Dr. Jutta Heller ist systemische Beraterin für individuelle und organisationale Resilienz, Business Coach und zertifizierte Rednerin. Sie unterstützt Unternehmen, Teams und Einzelpersonen in Trainings, Workshops, Coachings und Vorträgen (Präsenz und Online) bei der Resilienzentwicklung. In ihrer Akademie in Stein bei Nürnberg bildet sie Resilienzberater:innen aus, führt Resilienztrainings und Coaching-Tage für Frauen durch.