„Staunen und Neugier sind wichtige Antriebe“

31.12.2021
Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Nicola Gess, Universität Basel

„Es wäre fatal, wenn wir das Fragenstellen nur der Wissenschaft überlassen würden“, sagt die Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Nicola Gess. Sie hat zum Staunen und zu menschlicher Neugier geforscht, aktuell beschäftigt sie sich vor allem mit postfaktischer Politik und der Entstehung von Verschwörungstheorien – und damit auch mit der Kommunikation zwischen Gesellschaft und Wissenschaft. „Das Wissenschaftsjahr 2022 – Nachgefragt! ist eine ganz wichtige Initiative“, findet sie.

Die gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaft

„Die Wissenschaft und deren Institutionen tragen eine besondere Verantwortung für die Gesellschaft“, betont die 48-jährige Gess, die als Professorin für Germanistik an der Universität Basel lehrt. „Deshalb ist es für Wissenschaftler:innen zentral, Fragen aus der Bevölkerung ernst zu nehmen und darauf auch Antworten zu geben.“ Im IdeenLauf des Wissenschaftsjahres 2022 ist sie dabei besonders gespannt auf jene Fragen, mit denen sich die Forschenden bislang vielleicht selbst noch gar nicht beschäftigt haben: „Es könnte etwa auch um Themen gehen, bei denen es eher auf eine andere Kommunikation, ein Andersdenken, ein anderes Besprechen von bereits erforschten Phänomenen ankommt.“

Wie wichtig ein solcher Verständigungsprozess zwischen Gesellschaft und Wissenschaft ist, erklärt Gess mit einem Exkurs in die Soziologie: „Für eine demokratische Gesellschaft war und ist es schon immer enorm wichtig, eine informierte Öffentlichkeit und die Möglichkeit und Fähigkeit zu einer fundierten Meinungsbildung zu haben.“ Hierzu gehöre auch das Wissenwollen, das Nachfragen, ein allgemein kritischer Geist – und zwar in allen Teilen der Gesellschaft: „Es ist unbedingt notwendig, dass nicht nur an der Uni gestaunt und gefragt wird!“
 

Forschende staunen selbst – und lassen staunen

Nichtsdestotrotz spiele das Staunen für die Wissenschaft eine besondere Rolle. „Schon in der Antike sagte man: ‚Das Staunen ist der Anfang der Philosophie‘“, erklärt Gess. „Das Staunen als Antrieb für die Wissenschaft, als Motor der Erkenntnis – diese Idee ist ein ganz grundlegendes Motiv vieler Wissenschaftstheorien bis heute.“ Und genauso für Strategien zur Wissenschaftskommunikation, wie sie ergänzt: „Bei den Tagen der Wissenschaft an Universitätsstandorten, auf Marktplätzen oder anderen zentralen öffentlichen Orten lässt man ja gerne auch mal buchstäblich die Funken fliegen, um die Aufmerksamkeit des Publikums zu bekommen – auch da wird auf das Staunen gesetzt, um wissenschaftliche Erkenntnisse zu vermitteln.“

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sollten ihrerseits stets von einer gewissen Neugier getrieben sein: „Neugier, Staunen und andere Emotionen wie Faszination, vielleicht auch Bewunderung, sind ganz wichtige Antriebe.“ Das zeige allein die bedeutsame Rolle, die das Fragenstellen für die Wissenschaft spiele, auch methodisch – in Form der Forschungsfrage, die am Anfang einer jeden wissenschaftlichen Arbeit stehe.

Dabei müsse das Staunen nicht aufhören, wenn die wissenschaftliche Herausforderung bewältigt, die Forschungsfrage beantwortet sei. So gebe es auch in der Wissenschaft unzählige Phänomene, die „an sich staunenswürdig“ seien – zum Beispiel aufgrund ihrer Größe, Gewaltigkeit oder besonderen Komplexität. „Ein solches Staunen findet man nicht nur in der Erfahrung von herausragender Kunst oder von überwältigender Natur, sondern häufig auch, wenn Wissenschaftler:innen über ihre Forschung sprechen.“ Das sei dann ein Staunen, das bleibt – weil es eben mit den erforschten Objekten selbst zu tun habe.
 

Fragen: genauso wichtig wie Antworten

Eine grundsätzlich neugierige, kritische und offene Einstellung zu entwickeln, das sei für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler genauso bedeutend wie für alle anderen Menschen – und beginne im Kindesalter. „Es ist wichtig, bei Kindern dieses Fragenstellen zu fördern“, sagt Gess. Dabei gehe es gar nicht darum, immer auf alles sofort eine Antwort zu haben: „Es ist überhaupt nicht schlimm, zu sagen: Das weiß ich nicht.“ Wichtig sei, die Haltung des Fragenstellens und eine grundsätzliche Offenheit zu fördern, gemeinsam Fragen zu stellen.

Und was ist ihre ganz persönliche Frage für die Wissenschaft im Wissenschaftsjahr 2022? „Ich wünsche mir von den Kolleg:innen aus den Sozialwissenschaften noch mehr Forschung zur politischen Soziologie der Corona-Proteste“, sagt Gess. „Das halte ich angesichts der vielen sozialen Krisen, die wir derzeit überall auf der Welt erleben, für sehr wichtig – und bin gespannt auf die Einsichten, die wir daraus gewinnen werden.“

 

Die hier veröffentlichten Inhalte und Meinungen der Autorinnen und Autoren entsprechen nicht notwendigerweise der Meinung des Wissenschaftsjahres 2022 – Nachgefragt!​

 

Weitere Informationen

Sie wollen im Wissenschaftsjahr 2022 auch mit Ihrer Frage für die Wissenschaft zur Diskussion beitragen?

  • Ab dem 14. Januar geht’s los mit dem IdeenLauf. Was das ist und wie Sie sich einbringen können, erfahren Sie hier.
  • Hier bekommen Sie Informationen über die Auftaktveranstaltung des Wissenschaftsjahres 2022 am 14. Januar 2022.


Hier können Sie von Literaturprofessorin Dr. Nicola Gess mehr über das Staunen erfahren:

 

Vita

Nicola Gess ist Professorin für Neuere deutsche und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Basel. Sie forscht zu Staunen und Neugier, zu Postfaktizität und Verschwörungstheorien und zum literarischen Primitivismus. Zu ihren Büchern gehören „Staunen. Eine Poetik“ (2019), „Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit“ (2021), „Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige in der literarischen Moderne“ (2013).