Staunen, Weltwissen und die Neugier des Menschen

25.01.2022
Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Sebastian Knell, Universität Bonn

Platon sieht im Staunen den Ursprung der Philosophie. Dass uns so vieles auf der Welt staunen lässt, treibt uns auf die Suche nach Erklärungen für das, was wir (noch) nicht verstehen. Man könnte also sagen: Das Staunen ist der Treibstoff menschlicher Neugier und somit nicht nur Ursprung der Philosophie, sondern jeder Wissenschaft. Unglücklicherweise lässt sich das Wesen dieser beiden menschlichen Eigenheiten, ohne die wissenschaftlicher Fortschritt undenkbar wäre, (noch) nicht vollständig erklären. Ich möchte daher versuchen, diese weniger zu definieren als vielmehr für Sie greifbar zu machen, indem ich Ihnen verschiedene Aspekte des Staunens und der Neugier anschaulich mache.

Neugier hilft Lücken schließen

Diese beiden menschlichen Eigenheiten – Staunen und Neugier – setzen voraus, dass wir bereits über ein klein wenig gesichertes Wissen verfügen. Denn man muss etwas zumindest ein klein wenig verstehen, um tiefer eintauchen zu wollen. Aber obwohl wir etwas schon ein wenig verstehen, empfinden wir dieses Wissen trotzdem oft als unzureichend. Wir sehen Lücken, die wir schließen müssen. Es sind dann genau diese Wissenslücken, die uns dazu antrieben, unser Verständnis für die Sache zu schärfen. Lassen Sie mich Ihnen diesen Gedanken verbildlichen: Stellen Sie sich eine Zeichnung vor. Sagen wir lieber eine Skizze, denn unser Bild darf ja noch nicht vollständig sein. Ist es nicht so, dass Sie eine Skizze im Geiste vervollständigen, die Lücken in der Zeichnung ganz automatisch und unwillkürlich schließen? Ähnlich wie bei einem unvollständigen Bild treibt uns unsere menschliche Natur dazu, das unvollständige Bild, das wir von der Welt haben, vervollständigen zu wollen.

Durch diesen Drang schafft Natur Kultur. Anders gesagt: Unsere Natur treibt uns dazu an, unser Wissen zu kultivieren – und dafür eine Kultur der Vernunft zu schaffen. Und da Vernunft ihren Ursprung in unserer Neugier nimmt, ist sie zugleich auch immer eine Kultur der Neugier, die niemals gestillt werden kann. Im Gegensatz zu Kulturen, die sich allein auf religiöse oder mythologische Erklärung der Welt stützen und keine Lücken in ihrem (Welt-)Bild sehen, gibt sich die Kultur der Neugier nie zufrieden – und sieht das Erreichte nie als abgeschlossen an: eine unentbehrliche menschliche Besonderheit, ohne die Fortschritt nicht möglich ist.

Aspekte menschlicher Neugier

Jetzt habe ich Sie mit der Theorie hoffentlich nicht allzu sehr gelangweilt. Vielleicht verzeihen Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass Neugier auch einen ganz praktischen Sinn für uns hat.

In der Philosophie der Moderne wird der Mensch als ein „Mängelwesen“ beschrieben. Er ist von Natur aus nur unzureichend für sein Überleben gewappnet. Dafür braucht er mehr: Kultur und die damit einhergehende Technologie. Um erfolgreich in der Welt bestehen zu können, muss der Mensch dafür vor allem Wissen erwerben. Und hier kommt die sprichwörtliche kindliche Neugier ins Spiel, ohne die ein solcher Wissenserwerb nicht möglich wäre.
Zur Verdeutlichung des Gedankens etwas, das wir alle kennen: Wir alle waren mal Kinder. Und als solche mussten wir vieles erst lernen: Sprechen, Laufen, das Besteck richtig Benutzen etc. Ohne diese Fähigkeiten können wir unsere unvollständige biologische Natur nicht an unsere Welt anpassen. Wir könnten nicht mit anderen kommunizieren, uns nicht effizient über weite Distanzen bewegen und würden andere mit unserer wilden Art, ohne Besteck und nur mit den Händen zu essen, vor den Kopf stoßen. Grob gesprochen nennt der Philosoph Georg Wilhelm Hegel diese Grundkenntnisse, die wir nicht von Geburt an haben, aber im Laufe unseres Lebens lernen „zweite Natur“. Erst dadurch reifen wir wirklich zum Menschen und zu einem vollwertigen Mitglied unserer Gesellschaft. Sie sehen, Neugier ist überlebenswichtig!

Aber neben lebensnotwendigen Vorteilen, bietet Neugier noch mehr: Erstaunlicherweise geht sie auch über den praktischen Nutzen hinaus und beschäftigt sich mit Dingen, die wir gar nicht unmittelbar benötigen. Denken Sie nur an Bungeejumping. Hier richtet sich die Neugier auf etwas, was keinen Nutzen birgt außer der Erfahrung selbst. Ein anderes Beispiel in diesem Zusammenhang ist die Erforschung der Anfänge des Weltalls oder entfernter Galaxien. Ein sofortiger Nutzen ergibt sich für uns daraus nicht. Aber dennoch geht eine unheimliche Faszination vom Himmelsgestirn aus, die die Menschheit seit ihrer Entstehung in ihren Bann zieht und ihre Neugier weckt.

Als nächster Aspekt sei noch einer genannt, den ich „fragende Unruhe“ nenne und der viele – wenn nicht alle – Menschen umtreibt. Grund hierfür ist unsere erkennende Vernunft. Wir haben schon festgestellt, dass wir unsere Neugier niemals vollständig stillen oder unser Wissen vervollständigen können. Kant hat eine Bezeichnung für dieses Konzept, wenn etwas nie völlig zu Ende gebracht werden kann: „regulative Idee“. Wir wissen – wenn auch nur unterbewusst –, dass unsere Neugier niemals gestillt werden kann. Und dennoch geben wir ihr nach. Diese „fragende Unruhe“ ist gerade aufgrund dieser Tatsache ein bemerkenswerter Aspekt menschlicher Neugier und erinnert stark an den felsenrollenden Sisyphos, der zwar weiß, dass er sein Werk nie vollenden wird – und es dennoch versucht.

Unser letzter Punkt: Fantasie. Unsere Neugier erstreckt sich nicht nur auf die Welt und ihre Wirklichkeit. Wir wollen auch Dinge in Erfahrung bringen, die es gar nicht gibt. Wie oft konnten Sie ein Buch nicht weglegen, weil Sie wissen wollten, wie die Romanfigur aus ihrer prekären Situation wieder herauskommt? Wie viele von uns erlagen schon dem Phänomen des Bingewatching, weil die Serie einfach zu spannend ist?

Sie sehen: Unsere Neugier wird sich aufgrund ihrer Natur nie stillen lassen. Sie ist so facettenreich, dass sie nie aufhören wird, unsere Neugier zu wecken.

 

Die hier veröffentlichten Inhalte und Meinungen der Autorinnen und Autoren entsprechen nicht notwendigerweise der Meinung des Wissenschaftsjahres 2022 – Nachgefragt!​

Vita

Prof. Dr. Sebastian Knell ist als Philosoph am Institut für Wissenschaft und Ethik an der Universität Bonn tätig und war Gastprofessor an der Berliner Humboldt-Universität sowie an der Universität Graz. Gelehrt und geforscht hat er zudem an den Universitäten in Frankfurt am Main, Pittsburgh, Aachen, Basel und Princeton.
Bekannteste Buchveröffentlichung:  Die Eroberung der Zeit. Grundzüge einer Philosophie verlängerter Lebensspannen. Suhrkamp Verlag.