Kultur, Wissen, Bildung

„Wir brauchen mehr
Visionen, Ziele und Strategien“

01.07.2022
Kurz und knapp

Warum ist unser Bildungssystem eigentlich immer noch dasselbe wie vor 30 oder 40 Jahren? Weshalb verschärft es soziale Ungleichheiten? Und wo bleibt die Digitalisierung? Fragen wie diese reichten Bürgerinnen und Bürger in den IdeenLauf des Wissenschaftsjahres 2022 – Nachgefragt! ein. Der Bildungsforscher Prof. Kai Maaz hat sich mit ihnen auseinandergesetzt und erklärt, ob da was dran ist – und was sich in Deutschland ändern muss.

„Wir haben noch nicht die richtigen Antworten gefunden“

Warum ist unser Schulsystem immer noch dasselbe wie vor 30 oder 40 Jahren? Wieso wird es nicht an aktuelle Erkenntnisse aus der Psychologie angepasst? Wie schaffen wir es, dass Bildung gerechter wird und alle Kinder ihre Fähigkeiten bestmöglich entwickeln können? Wie bringen wir die Digitalisierung in den Schulen wirklich voran? Dies sind einige der vielen Fragen zum Bildungssystem, die im Rahmen des IdeenLaufs zum Wissenschaftsjahr 2022 – Nachgefragt! von Bürgerinnen und Bürgern eingereicht wurden.

Der Bildungsforscher Prof. Kai Maaz kann das Gefühl vieler Menschen nachvollziehen, die Schule halte nicht Schritt mit den großen gesellschaftlichen, politischen und technologischen Umwälzungen. „Insbesondere wenn man auf den Lernerfolg schaut, müssen wir feststellen, dass der Anteil der sogenannten kompetenzschwachen Schülerinnen und Schüler heute genauso groß ist wie vor 20 Jahren“, sagt Maaz. Auch habe es das System nach wie vor nicht geschafft, soziale Ungleichheiten nennenswert zu bekämpfen: „Wir haben seit Jahrzehnten dieselben Kernfragen“, betont Maaz, „und ganz offensichtlich noch nicht die richtigen Antworten gefunden.“

Allerdings verweist er auch auf viele positive Entwicklungen der vergangenen zwanzig, dreißig Jahre: „Ich denke da etwa an die vielen unterschiedlichen Reformbewegungen in den Bundesländern.“ So gebe es in keinem Bundesland mehr eine klassische Dreigliedrigkeit mit Haupt-, Realschule und Gymnasium. Stattdessen sei bundesweit der Trend zu einem verschlankten Sekundarschulsystem zu beobachten, das lediglich unterscheide in Gymnasium und eine nicht-gymnasiale Schulform. „Da hat sich der Tanker Bildungssystem doch bewegt“, sagt Maaz. Oder beim Thema Ganztagsschule: „Vor 30 Jahren wussten wir noch nicht mal richtig, was das ist – da hat sich unglaublich viel getan.“ Auch habe man mit der Einführung von länderübergreifenden Bildungsstandards Qualitätsmerkmale im System etabliert, die auch Mindestanforderungen definieren und die es früher in der Form nicht gegeben habe.

„Es ist nicht so, dass sich in den vergangenen 20, 30 Jahren nichts getan hat“

Zudem greife es zu kurz, den Blick nur auf die Schule zu richten. „Wir müssen auch die Institutionen davor und danach in den Blick nehmen“, betont Maaz. „Gerade im vorschulischen Bereich gab und gibt es eine wirklich starke Expansion.“ So würden Erkenntnisse und Instrumente für frühe institutionelle Bildung immer mehr nachgefragt, es gebe Bildungspläne und mittlerweile in fast allen Bundesländern Spracheignungstests, um Sprachförderbedarfe festzustellen. „Das mag nicht immer in die Richtung gehen, die man sich persönlich wünscht“, sagt Maaz. „Aber dass sich in den letzten 20 bis 30 Jahren nichts geändert hat, kann man nicht sagen.“

Trotzdem weiß auch er, dass viel zu tun bleibt. Aber wo ansetzen? „Wir brauchen mehr Visionen, Ziele und Strategien“, sagt Maaz. „Und zwar solche, die über eine Legislaturperiode hinausreichen.“

Dabei kann der Blick über den eigenen Tellerrand helfen: Zwar könne man nicht einfach die – möglicherweise besser funktionierenden – Strukturen und Instrumente aus anderen Ländern auf Deutschland übertragen. Dazu seien die jeweiligen Systeme viel zu sehr in ihren sehr spezifischen geographischen und kulturellen Traditionen eingebettet. „Was wir uns aber von anderen Ländern abschauen können, ist, viel mehr Zielsetzungen zu formulieren“, glaubt Maaz. „Also Visionen entwickeln, wo wir hinwollen – und diese Visionen in Ziele überführen, die man dann wiederum in Strategien gießen kann.“

Maaz betont, dass dies eine hochkomplexe bildungspolitische Aufgabe ist. Schließlich müsse hier über Ziele gesprochen werden, die vielleicht zwei oder drei Legislaturperioden entfernt sind. Doch gerade in der Pandemie habe sich erwiesen, dass langfristige Strategien ein Schlüssel zum Erfolg sind. So seien etwa die Schulen in Dänemark vergleichsweise leicht durch die Lockdown-Zeit gekommen, weil dort das System schon vor vielen Jahren viel intensiver und nachhaltiger digitalisiert worden sei.

„Wenn wir die Digitalisierung vorantreiben wollen, dürfen wir nicht in 16 Bundesländern denken“

Wichtig sei, die Ziele auf verschiedenen Ebenen zu formulieren – von der Bundes- über die Länderebene bis in die Kommunen und einzelnen Bildungseinrichtungen. „Diese Kette funktioniert in Deutschland nicht lückenlos“, sagt Maaz. Teilweise würde von Schulen eingefordert, Ziele zu formulieren, während auf den Ebenen darüber kein Diskurs darüber stattfinde, wo wir eigentlich hinwollen. Erst nach einer Verständigung darüber könne man die entscheidenden Fragen angehen: Haben wir genug Personal, um diese Ziele zu erreichen? Bilden wir entsprechend aus? Gerade die Personalfrage werde sich in den nächsten Jahren „dramatisch“ stellen, das zeigen laut Maaz bereits mehrere wissenschaftliche Studien.

Durch viele Forschungen wisse man, wie die Förderung bestimmter Schülergruppen aussehen könnte. Doch auch hier mangele es wieder an konkreten Umsetzungsstrategien – sowie entsprechenden Konsequenzen und Maßnahmen in den Schulen, wenn definierte Bildungsstandards nicht eingehalten würden. Dabei glaubt Maaz nicht, dass fehlende finanzielle Ressourcen das Grundproblem sind. Vielmehr müssten bessere Antworten auf die Frage gefunden werden, wo das Geld zu welchem Zweck eingesetzt wird.

Dass die Schule soziale Ungleichheiten in Gänze verhindern kann, hält der Wissenschaftler für eine Illusion. „Die Forschung zeigt, dass die wichtigsten Weichenstellungen für die Entwicklung von Kindern weit vor der Schule gestellt werden“, betont Maaz. „Wir müssen also viel früher anfangen, Bildungsungleichheiten abzubauen, etwa durch spezifische Angebote für sozial schwache Familien. Hier erst bei der Schule anzusetzen, ist viel zu spät.“

Und auch zum Thema Digitalisierung kommt Kai Maaz schließlich wieder auf Ziele und Strategien zu sprechen: „Wenn wir die Digitalisierung des Bildungssystems wirklich nachhaltig und innovativ vorantreiben wollen, brauchen wir länderübergreifende Strukturen und keine 16 Einzellösungen.“ Er wünscht sich, dass hier die Kompetenzen aus Wissenschaft und Forschung, der Praxis und möglicherweise auch der Wirtschaft gebündelt werden, um den Bildungseinrichtungen sinnvolle Angebote zu machen, gute Materialien zu entwickeln, den Prozess wissenschaftlich zu begleiten und entsprechendes Personal zu qualifizieren. „Das bedarf einer enormen, gemeinsamen Kraftanstrengung“, weiß Maaz. „Aber ich bin optimistisch, dass wir auf diese Weise einen großen Schritt vorankommen.“

Hier erfahren Sie mehr über Prof. Kai Maaz und seine Arbeit als Wissenschaftler sowie Geschäftsführender Direktor am DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation.

 

Vita

Prof. Dr. Kai Maaz ist Geschäftsführender Direktor des DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation, wo er darüber hinaus die Abteilung „Struktur und Steuerung des Bildungswesens“ leitet. Zugleich ist er Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Bildungssysteme und Gesellschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen unter anderem die soziale Ungleichheit beim Bildungserwerb, die Entwicklung von Bildungsbiografien und Übergangsentscheidungen, die Evaluation von Schulstrukturen, Bildungsprogrammen und Schulen sowie das Bildungsmonitoring.