Wie der Geschmack von der Zunge ins Gehirn gelangt


Portrait Generationen und Essverhalten
  • Herr Meyerhof, was untersucht ein Geschmacksforscher?

    Wolfgang Meyerhof: Wir wollen auf molekularer und zellulärer Ebene herausfinden, wie der Geschmack unser Essverhalten beeinflusst. Wir versuchen aufzuklären, was auf dem langen Weg von der Zunge oder genauer: dem Mund bis ins Gehirn passiert. Denn dort nehmen wir bewusst wahr, wie etwas schmeckt und entschließen uns, es entweder runterzuschlucken oder auszuspucken.

  • Ist Geschmack demnach reine Kopfsache?

    Wolfgang Meyerhof: Geschmack hat sehr viel damit zu tun, wie wir die Qualität unserer Nahrung bewerten. Das ist natürlich eine Kopfsache. Aber die paart sich mit Informationen, die der Verzehr der Nahrung mit sich bringt und die wir aus den Eingeweiden beziehen. Wir merken uns beispielsweise, wenn wir mit einer bestimmten Speise Kalorien zu uns genommen oder Vergiftungen erlitten haben. Daraus resultieren unsere Nahrungsvorlieben und auch unsere Abneigungen gegen bestimmte Lebensmittel.

  • Warum essen wir süße Speisen lieber als saure?

    Wolfgang Meyerhof: In der Evolution haben sich der Süß-, der milde Salzgeschmack wie auch der so genannte Umami-Geschmack von Aminosäuren entwickelt, um überlebenswichtige Kalorien und Elektrolyte in der Nahrung anzuzeigen. Die Natur hat also neuronale Mechanismen erfunden, die uns diese Geschmäcker bekömmlich und wohlschmeckend erscheinen lassen. Der Bitter- und Sauergeschmack zeigt dagegen Gefahren an: Viele bittere Substanzen sind giftig und Säure gilt als Indikator für vergammelte Nahrung.

  • Wie genau wird der Geschmack gebildet? Und wie gelangt er ins Gehirn?

    Wolfgang Meyerhof: Wir haben für jede der fünf Grundgeschmacksarten zuständige Zellen, die Rezeptoren enthalten, Andockstationen für die Moleküle, die wir als süß, sauer, salzig, bitter oder umami wahrnehmen. Diese Rezeptorzellen sitzen in den Geschmacksknospen. Das sind zwiebelförmige Anordnungen von etwa einhundert verschiedenen Zellen, die auf der Zunge in Papillen – diesen roten Pünktchen, die man mit bloßem Auge erkennen kann – zusammengefasst sind. Bestimmte Nerven verschalten die Geschmacksrezeptorzellen im Mund mit dem Geschmackskern im zentralen Nervensystem, der die Impulse weiter zur Großhirnrinde leitet. Dort werden die Geschmacksreize erkannt und mit Geruchseindrücken zu Aromawahrnehmungen zusammengesetzt. Aber auch im Geschmackskern werden Geschmacksinformationen verarbeitet. Sie lösen das Bewegen von Kau- und Schluckmuskeln, die Speichelbildung im Mund oder auch den Brechreiz aus.

  • Wenn es bei allen Menschen gleich funktioniert, warum schmecken wir unterschiedlich?

    Wolfgang Meyerhof: Geschmack ist auch eine Frage der Genetik. Beim Bittergeschmack etwa kommt jeder der zuständigen 25 Rezeptoren in ganz verschiedenen Ausprägungen bei uns Menschen vor. Was also der eine schon als intensiv bitter empfindet, ist für den anderen vielleicht gar nicht wahrnehmbar. Weiterhin lernen wir aufgrund von früheren Erfahrungen, was schmeckt und bekömmlich ist und was nicht. Und diese Erfahrungen können von Mensch zu Mensch verschieden sein.

  • Besteht ein Zusammenhang zwischen genetischer Ausstattung und Essverhalten?

    Wolfgang Meyerhof: Das wissen wir noch nicht. Wir müssen noch erforschen, ob eine bestimmte Rezeptorausstattung mit einem spezifischen Ernährungsverhalten verbunden ist. Wenn dem so ist, können wir dieses Wissen Ernährungspsychologen zur Verfügung stellen, die Trainingsprogramme und Empfehlungen erarbeiten, um Verbraucherinnen und Verbraucher aufzuklären und gesundheitsdienliche Verhaltensänderungen herbei zu führen.

  • Inwiefern können Ihre Erkenntnisse eine Rolle für die Gesund- heitsforschung spielen?

    Wolfgang Meyerhof: Möglicherweise können unsere Erkenntnisse die Grundlage für pharmakologische Mittel bilden. Nehmen Sie den Salzgeschmack. Ein zu hoher Salzkonsum erhöht das Bluthochdruck- und Herzinfarktrisiko. In der vorproduzierten Nahrung, die wir kaufen und zum Kochen benutzen, ist viel zu viel Salz enthalten. Die Nahrungsmittelindustrie sucht deshalb nach Stoffen, die den Salzgeschmack manipulieren können, um den Verbrauch von Kochsalz einzuschränken. Einige Firmen versuchen derzeit auch, Bitterblocker zu entwickeln, so dass beispielsweise bestimmte Medikamente besser schmecken.

  • Was halten Sie von „Functional Food“?

    Wolfgang Meyerhof: Ich möchte nicht sagen, dass ich ein Gegner von „Functional Food“ wäre. Aber es stimmt mich schon nachdenklich, wenn wir durch pharmakologische Interventionen im Geschmackssystem dafür sorgen wollen, dass wir weniger oder das Richtige essen. Wir könnten uns das alles sparen, wenn wir jeden Menschen dazu brächten, morgens und abends fünf Runden um den Sportplatz zu laufen.

 

Wolfgang Meyerhof leitet die Abteilung Molekulare Genetik am Deutschen Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke (DIfE). Gemeinsam mit seinem Team untersucht er den Zusammenhang von Geschmack und Essverhalten.

 

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