Immunity-Erreger im MPI

 

Im Schatten der Aufmerksamkeit

 

Am Anfang leiden die Betroffenen unter Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen. Doch was zunächst wie eine Grippe daherkommt, kann auch die tödliche Schlafkrankheit sein. Sie ist eine von 17 Krankheiten, die die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in ihre Liste der so genannten „vernachlässigten Tropenkrankheiten“ aufgenommen hat.

Im weiteren Verlauf der Schlafkrankheit können Hautausschlag, Juckreiz, Schwellungen im Gesicht und an den Beinen sowie eine Vergrößerung von Leber und Milz auftreten. Dann breitet sich der Parasit, der durch Tsetse-Fliegen übertragen wird, im zentralen Nervensystem aus und es kommt zu schweren Schlafstörungen, Umkehr des Schlaf-Wachrhythmus und Wesensveränderungen. Unbehandelt ist die Krankheit, an der laut WHO in Afrika jährlich bis 70.000 Menschen neu erkranken, tödlich.

Weltweit leiden mehr als eine Milliarden Menschen an der Schlafkrankheit oder einer anderen vernachlässigten Tropenkrankheiten, und sie leben fast alle in den armen ländlichen Gebieten und den städtischen Slums Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. Viele vernachlässigte Krankheiten werden von Parasiten und Würmern ausgelöst. In den Industrieländern spielen sie wegen verbesserter Hygiene und weil es die Überträger nicht gibt, keine Rolle – und finden deshalb kaum Beachtung.

Mehr als 65 Millionen Betroffene

Zahlenmäßig am gravierendsten unter den vernachlässigten Tropenkrankheiten und die häufigsten Infektionen weltweit sind Wurmerkrankungen, zu denen auch Bilharziose, Flussblindheit und Lymphatische Filariose gehören. Allein letztere betrifft mehr als 65 Millionen Menschen in Afrika, Lateinamerika und Asien. Auslöser ist ein Fadenwurm, der von Stechmücken übertragen wird. „Elefantiasis“ heißt das Endstadium der Krankheit, bei dem durch einen Lymphstau Beine und Genitalien extrem anschwellen und ein normales Leben oft unmöglich machen. „In Subsahara-Afrika leidet fast jeder Mensch an einer Wurmerkrankung“, berichtet Professor Stefan Kaufmann, Direktor am Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie Berlin. Zwar ist das Krankheitsbild nicht immer so auffällig wie bei der Lymphatischen Filariose, doch sind die Folgen nicht weniger gravierend. Denn schwere Durchfälle führen zu Mangelernährung, weil die Nahrung nur noch unzureichend aufgenommen werden kann, und das bedingt Wachstumsverzögerung und geistige Entwicklungsstörungen. Dennoch stehen Wurmerkrankungen noch mehr im Schatten der Aufmerksamkeit als manch andere vernachlässigte Krankheit. Laut „G-Finder-Report“, einem internationalen Bericht zu den Summen, die weltweit für die Forschung für vernachlässigte Krankheiten ausgegeben werden, wurden 2009 weltweit etwa 3,3 Milliarden Dollar in Forschung und Entwicklung für vernachlässigte Krankheiten investiert. Fast drei Viertel dieser Summe wurden allerdings für die „großen Drei“ Malaria, HIV/Aids und Tuberkulose ausgegeben – und nur 2,5 Prozent für die Erforschung von Wurmerkrankungen.

Enorme ökonomische Kosten

Die vernachlässigten Tropenkrankheiten verlaufen in der Regel chronisch, beeinträchtigen die Lebensqualität der Betroffenen extrem und verstärken den Teufelskreis aus gesellschaftlicher Ausgrenzung und Armut. Sie verursachen außerdem enorme ökonomische Kosten. Laut WHO gehen durch vernachlässigte Krankheiten weltweit jedes Jahr 57 Millionen gesunde Lebensjahre verloren. Jahre, in denen die betroffenen Menschen, aufgrund von Krankheit und Behinderung so beeinträchtigt sind, dass sie nicht zur Schule oder Arbeit gehen können oder frühzeitig sterben.

Für viele vernachlässigte Tropenkrankheiten gibt es entweder keine oder nur veraltete Medikamente, die gravierende Nebenwirkungen haben. Oder die Medikamente sind nur in bestimmten Stadien wirksam. Wieder andere sind zu teuer oder nicht für die Behandlung von Kindern geeignet, obwohl diese besonders häufig von vernachlässigten Erkrankungen betroffen sind. So gibt es keine Möglichkeit, das Endstadium der Lymphatischen Filariose („Elefantiasis“) mit Medikamenten rückgängig zu machen. Nur eine schwierige Operation kann den Zustand der Patienten dann noch verbessern. Zur Behandlung der Schlafkrankheit wurde bis vor einigen Jahren noch das arsenhaltige Melarsoprol eingesetzt, das bei mehr als fünf Prozent der Patienten zum Tod führte. Inzwischen gibt es eine neue Kombinationstherapie aus Eflornithin-Nifurtimox, die zwar deutlich weniger Nebenwirkungen hat, aber sehr aufwendig zu verabreichen und damit teuer ist.

Traurige Faustregel

Da die Kaufkraft in Entwicklungsländern gering ist und auch die staatlichen Gesundheitssysteme unterfinanziert sind, besteht für die Pharmaindustrie kaum ein Anreiz, Produkte speziell für die dortige Bevölkerung zu entwickeln. „Wenn in Afrika eine medikamentöse Behandlung mehr als 50 Cent kostet, ist sie fast nicht mehr einsetzbar“, erklärt Professor Jürgen May vom Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin in Hamburg. „Gewinnaussichten und dringender Bedarf stehen sich bei den vernachlässigten Krankheiten diametral gegenüber“, beschreibt Stefan Kaufmann die Situation. Das Ergebnis fasst die „10/90-Faustregel“ zusammen: Lediglich zehn Prozent der weltweiten Forschungsgelder fließen in Krankheiten, unter denen 90 Prozent der kranken Menschen leiden. Und so wurden von den 1.500 Wirkstoffen, die zwischen 1974 und 2004 weltweit auf den Markt kamen, nur zehn zur Behandlung vernachlässigter Tropenkrankheiten entwickelt. Kaufmann macht noch eine andere Rechnung auf: „Weltweit werden jährlich etwa 4.000 Milliarden Dollar für Gesundheit ausgegeben, das wären eigentlich durchschnittlich 600 Dollar für jeden Menschen. Aber während beispielsweise in Deutschland und den USA etwa 5.000 Dollar pro Kopf zur Verfügung stehen, sind es in Entwicklungsländern nur fünf Dollar.“ Nötig wäre allerdings laut WHO ein Minimum von 50 Dollar jährlich für jeden Menschen.

Unzureichende medizinische Infrastruktur

„Ein ganz großes Problem ist aber auch, dass man die Menschen nicht erreicht, selbst wenn es Therapiemöglichkeiten gibt“, berichtet Jürgen May. Denn die medizinische Infrastruktur in den betroffenen Ländern ist schlecht und flächendeckende Gesundheitszentren, die die Versorgung organisieren könnten, fehlen: „Will man zum Beispiel eine Infektionskette per Impfung unterbrechen, muss man oft mehr als 90 Prozent der Bevölkerung erreichen. Wenn es nicht gelingt, die nötige Durchimpfungsrate zu erreichen, kommt es mit großer Wahrscheinlichkeit zu Ausbrüchen der Krankheit.“ Hinzu komme, dass vor Ort oft die Erkenntnis fehle, dass Gesundheit ein wichtiges Gut ist: „Die ökonomischen Interessen liegen oft woanders“, sagt May: „Das wenige Geld, das zur Verfügung steht, wird dann eher in die Nutztiere investiert, um die Ernährung der Familie zu sichern, und nicht in die Gesundheit einzelner Kinder.“

Es ist aber nicht nur die moralische Verantwortung, die die Industrieländer hinsichtlich der vernachlässigten Krankheiten in die Pflicht nimmt: „Aufgrund der Klimaveränderungen und durch Migration und Reisen in unserer globalisierten Welt können diese Krankheiten irgendwann auch zu uns kommen“, warnt May. Dass das durchaus möglich ist, zeigt beispielsweise das Ausbrechen des Chikungunya-Fiebers vor einigen Jahren in Norditalien. Und das West-Nil-Virus hat sich in den USA seit Ende der 1990er Jahre überall ausgebreitet. Beide Erkrankungen stehen zwar nicht auf der WHO-Liste, sind aber auch ursprünglich tropische Infektionskrankheiten.