TB_54625: Ⓒ Bruno De Cock Ⓒ Bruno De Cock

 

Vernachlässigte Krankheiten – vernachlässigte Kranke – vernachlässigte Forschung

 

Porträt Oliver Moldenhauer, oliver-moldenhauer.jpg: (c) Sebastian Bolesch Oliver Moldenhauer, Leiter der Medikamentenkampagne von „Ärzte ohne Grenzen“. Ⓒ Sebastian Bolesch

Jedes Jahr behandelt Ärzte ohne Grenzen mehrere hundert Menschen mit multiresistenter Tuberkulose in einem Projekt in Nukus, der Hauptstadt der autonomen Republik Karakalpakstan im Nordwesten Usbekistans.

Die wirtschaftliche Situation in dieser Region ist äußerst schwierig und die Ärzte sehen sich mit enormen Herausforderungen konfrontiert. Usbekistan ist eine der Regionen, in der die weltweite Epidemie medikamentenresistenter Tuberkulose am schlimmsten wütet. Diese Lungenkrankheit gilt in Europa und Nordamerika als besiegt und taucht unter dem Namen „Schwindsucht“ allenfalls noch in Romanen auf.

In vielen Teilen der Welt ist die Tuberkulose (TB) allerdings auch heute noch eine alltägliche Gefahr, die jedes Jahr 1,7 Millionen Tote fordert. Dennoch wird zu der Krankheit heute kaum geforscht. Die neuesten regulären Tuberkulosemedikamente sind über vierzig Jahre alt. Das am häufigsten angewandte diagnostische Verfahren ist mit 130 Jahren sogar noch älter. Es wurde von Robert Koch entwickelt, der im Jahr 1882 die Erreger der Tuberkulose entdeckte. Dieses Verfahren erkennt nur ungefähr die Hälfte aller Fälle und ist bei Kindern und bei Patienten, die auch mit HIV/Aids infiziert sind, sogar noch ungenauer. Diese unzureichenden Behandlungsmöglichkeiten leisten der Entstehung von Resistenzen Vorschub. Weil nicht alle Infektionen diagnostiziert und angemessen behandelt werden können, besteht die Gefahr, dass die multimedikamentenresistente Tuberkulose (MDR-TB) sich weiter ausbreitet. Von MDR-TB spricht man, wenn die Erreger gegen die beiden wichtigsten Tuberkulosemedikamente Isoniazid und Rifampicin resistent sind. Die ohnehin schon aufwändige Behandlung normaler TB von sechs Monaten verlängert sich auf bis zu zwei Jahre ohne Unterbrechung - zunächst stationär, später ambulant.

Die Heilungsrate bei Patienten mit MDR-TB in Nukus beträgt rund 60 Prozent - eine erschreckend geringe Quote, die übrigens bei Patienten die in Deutschland behandelt werden auch kaum besser liegt. Um bessere Behandlungserfolge zu erzielen, müssen dringend sowohl neue Diagnostika als auch Medikamente entwickelt werden, die effektiver wirken, weniger Nebenwirkungen haben und die Therapie deutlich verkürzen.

Tuberkulose gilt, genauso wie beispielsweise Malaria, Leishmaniose oder die Schlafkrankheit, als vernachlässigte Krankheit. Weil zu diesen Krankheiten kaum geforscht wird, existieren hier keine angemessenen Medikamente oder Diagnostika.

Diese mangelhaften Forschungsanstrengungen stehen dabei im krassen Missverhältnis zum Bedarf und zur Bedeutung dieser Krankheiten für die Patienten weltweit. Von den 1.556 neuen pharmazeutischen Wirkstoffen, die zwischen 1975 und 2004 zugelassen wurden, wurde nur rund ein Prozent für die Behandlung von Tropenkrankheiten einschließlich Tuberkulose entwickelt. Und das, obwohl diese Krankheiten für über 11 Prozent der globalen Krankheitslast verantwortlich sind.

Dieses Missverhältnis hat seinen Ursprung im Anreizsystem für private medizinische Forschung. Große Pharmaunternehmen investieren in Medikamente, die hohe Gewinne versprechen und nicht unbedingt in solche, die viele Menschenleben retten könnten. Tuberkulose oder tropische Krankheiten kommen fast ausschließlich in den für gewinnorientierte Pharmafirmen unattraktiven Märkten des globalen Südens vor. Das hat bis zum heutigen Tag zu einer – vielfach tödlichen - Vernachlässigung dieser Krankheiten geführt.

Für die Forschung zu vernachlässigten Krankheiten ist klar, dass nicht-kommerzielle Finanzquellen und neue Instrumente jenseits der profitorientieren Industrieforschung notwendig sind. Für die Verwendung öffentlicher wie auch philanthropischer Gelder gibt es eine ganze Reihe von Instrumenten, die alle zu einem produktiven Mix gehören, zum Beispiel öffentliche Projektausschreibungen inklusive der Finanzierung der Entwicklung bis zur Produktreife, institutionelle Förderung öffentlicher Forschungsinstitute - etwa des Forschungszentrums Borstel, das viel zu Tuberkulose arbeitet oder des Bernhard-Nocht-Instituts für Tropenmedizin.

Nichtkommerzielle Forschungsstiftungen, so genannte Produktentwicklungspartnerschaften, spielen seit ungefähr einem Jahrzehnt eine zunehmende Bedeutung bei der Entwicklung neuer Medikamente, Diagnostika und Impfstoffe für vernachlässigte Krankheiten. Der Vorteil dieser internationalen Partnerschaften liegt vor allem im Portfolio-Management: Es wird zu jedem gewünschten Produkt immer eine ganze Reihe konkurrierender Projekte durchgeführt, so dass Gelder schnell von Projekt zu Projekt, von Institution zu Institution und von Land zu Land verschoben werden können, je nach dem Erfolg der jeweiligen Arbeit.

In diesem Jahr will erstmals auch das Bundesforschungsministerium Produktentwicklungspartnerschaften fördern. Dieser wichtige Schritt zum Wohle der Kranken in den ärmeren Ländern der Welt wird von Ärzte ohne Grenzen explizit unterstützt. Allerdings ist der hierfür bereit gestellte Betrag von 22 Millionen Euro über vier Jahre noch eher symbolisch zu verstehen und muss dringend erhöht werden, wenn Deutschland seiner Verantwortung wirklich gerecht werden möchte. Im Augenblick ist zum Beispiel der niederländische Beitrag dreimal so hoch - und selbst Ärzte ohne Grenzen gibt mehr Geld an die „Drugs for Neglected Diseases Initiative“, eine Produktentwicklungspartnerschaft, die die Hilfsorganisation zusammen mit fünf öffentlichen Forschungseinrichtungen gegründet hat.

Bisher fehlt ein wichtiges innovatives Instrument zur Förderung der Forschung zu vernachlässigten Krankheiten: Seit einigen Jahren wird vielfach die Ausschreibung von Forschungsprämien als Anreiz zur Erforschung vernachlässigter Krankheiten diskutiert. Mit einer solchen Prämie hätten private Institutionen, etwa kleine Biotechnologie-Firmen, die Möglichkeit, Gewinne mit der Entwicklung von Produkten für die Armen der Welt zu machen - und zwar ohne ihnen durch hohe Produktpreise den Zugang zu den Medikamenten zu verbauen. Die Idee ist ganz einfach: Wer etwa als erster ein neues Tuberkulose-Diagnostikum auf den Markt bringt, das effektiv gegen multiresistente Tuberkulose hilft, erhält einen zwei- bis dreistelligen Millionenbetrag und muss zum Ausgleich auf das Recht zur Monopolproduktion verzichten. So könnte endlich ein Markt für Innovationen zu Gunsten der Armen entstehen. Ärzte ohne Grenzen hält das für eine innovative Idee – ebenso wie etwa der Nobelpreisträger und ehemaligen Weltbank-Chefökonom Joseph Stiglitz und der Wirtschaftswissenschaftler James Love. Die Bundesregierung sollte sich an der Erprobung von Forschungsprämien beteiligen.

Ein Punkt darf allerdings auf gar keinen Fall vergessen werden: Innovation ist nutzlos, wenn sich die Menschen den Zugang nicht leisten können. Es muss daher bei jeder öffentlichen Förderung von Forschung zu vernachlässigten Krankheiten Bedingung sein, dass keine patentbasierten Monopole entstehen.

Oliver Moldenhauer und Philipp Frisch, Leiter und Mitarbeiter der Medikamentenkampagne von „Ärzte ohne Grenzen“.

 

Weitere Informationen:

Ärzte ohne Grenzen

Internationale Medikamentenkampag

 

Mehr zum Thema "Vernachlässigte Krankheiten & globale Kooperation"